Zum wiederholten Mal hatte Aki-Matilda Høegh-Dam es gewagt, einem ganzen Königreich die Stirn zu bieten – und dafür in ihrer Heimat frenetischen Applaus geerntet. Seit 2019 sitzt die Sozialdemokratin, die just diesen Donnerstag ihren 28. Geburtstag feierte, als Abgeordnete der „Vorwärts“-Partei („Siumut“) im Folketing, dem Parlament Dänemarks, und repräsentiert als eine von zwei Volksvertretern die Einwohner der Insel Grönland.
Doch als die Vertreter der Folketing-Parteien zur jährlichen Parlamentseröffnung ihre politischen Absichtserklärungen vortrugen, hielt Høegh-Dam ihre Rede nicht wie gewohnt auf dänisch, sondern auf grönländisch. Für die dänischen Parlamentarier ein Affront. Für Høegh-Dam, die schon 2023 einen ähnlichen Sprach-Eklat im Folketing provozierte, ein Schritt hin zur Gleichberechtigung. „Meine damalige Rede war eine Reaktion auf die herablassende Haltung gegenüber der grönländischen Bevölkerung“, erklärte die Dänin mit grönländischen Großeltern diesen Juni im Interview mit der Zeitschrift Harvard International Review. „Es war sowohl ein Protest gegen das System als auch ein Versuch sicherzustellen, daß die Mehrheit der grönländischen Bevölkerung, die nicht fließend Dänisch spricht, die Möglichkeit hat, die getroffene Politik zu verstehen.“
Noch im 18. Jahrhundert erstreckte sich das dänische Kolonialreich von Dänisch-Westindien in der Karibik – den heutigen Amerikanischen Jungferninseln – über Festungen an der Küste des heutigen Ghana in Westafrika bis hin zu Siedlungen an der südostlichen Küste des indischen Subkontinents. Geblieben sind von diesem weltumspannenden Handelsnetz bis heute einzig noch Grönland sowie die Färöer-Inseln. Und auch auf diesen rumort es dank vitaler, die Inselpolitik dominierender Unabhängigkeitsbewegungen. Ihr Einfluß bezeugt allein schon das differenzierte Verhältnis zum europäischen Festland: So gehören beide Regionen wie auch das „egentlige Danmark“, so das Land Dänemark in seiner Umgangsbeschreibung, zum gemeinsamen Königreich Dänemark, hingegen nicht zur Europäischen Union. Die Färöer haben gar ihre eigene Münze, beide Regionen ihre eigenen Pässe. Auch Dänen, die auf den Färöern leben, gelten nicht als EU-Bürger. Bis 1953 galt Grönland als letzte dänische Kolonie, seit 2009 steht die größte Insel der Erde – in Fläche mehr als sechsmal so groß wie Deutschland – unter erklärter Selbstverwaltung.
„Viele Positionen haben sich im Lauf der Zeit verändert“
Doch obwohl sich auch in jüngsten Umfragen gut zwei Drittel der Grönländer, die sich politisch noch immer marginalisiert fühlen, für ihre komplette Unabhängigkeit aussprechen, treiben selbst Verfechter wie die Siumut-Partei die Abspaltung von Dänemark nur halbherzig voran. Zu groß ist die Angst vor einem wirtschaftlichen Niedergang der Insel, deren Haushalt immerhin zum Großteil aus dänischen Steuergeldern subventioniert wird – allein in diesem Jahr mit umgerechnet rund 600 Millionen Euro bei nur 56.000 Einwohnern. Grund zum Zweifel liefern vor allem die benachbarten Inuit im kanadischen Nunavut. Das seit April 1999 selbstverwaltete indigene Territorium gilt seit Jahren als Armenhaus Kanadas; rund 40 Prozent aller Inuit leben unterhalb der kanadischen Armutsgrenze, jeder zweite Haushalt ist von Ernährungsunsicherheit betroffen.
Die Loslösung vom Mutterland, das hatte die Dekolonialisierungsgeschichte des letzten Jahrhunderts eindrucksvoll gelehrt, bietet nicht nur Chancen, sondern birgt auch große Risiken. Auf letztere gänzlich zu verzichten wünschen sich die Einwohner der Falklandinseln vor der Küste Argentiniens. Seit 1833 schwelt nunmehr der Konflikt zwischen Argentinien und Großbritannien über den Besitz der kargen Inselgruppe und ihre derzeit etwa 3.000 Bewohner. Ginge es nach diesen, wäre der Disput längst vom Tisch: In einem Referendum vom März 2013 stimmten 99,8 Prozent der Wahlberechtigten für den Verbleib im Vereinigten Königreich – bei lediglich drei Gegenstimmen. Einen offenen Krieg um die Inselgruppe hatte Argentinien bereits 1982 verloren. Gut 900 Soldaten, der Großteil davon Argentinier, kamen damals ums Leben. Seitdem hält Großbritannien ein Kontingent von rund 1.500 Soldaten sowie einen beachtlichen Flottenanteil auf den Inseln stationiert.
Entgegen seinen Vorgängern im Amt scheint Argentiniens neuem Präsidenten Javier Milei, einem bekennenden Anhänger der während des Falklandkriegs amtierenden britischen Premierministerin Margaret Thatcher, nichts an einer Eskalation mit dem Vereinigten Königreich zu liegen. „Wir werden weder unsere Souveränität aufgeben noch einen Konflikt mit dem Vereinigten Königreich anstreben“, beteuerte Milei im April während der Vorstellung seines Aktionsplans zur Übernahme der Inseln. Seine eigene politische Agenda sei „im Rahmen des Friedens“ verankert, erklärte Milei und verwies auf langfristige diplomatische Bemühungen seiner Regierung: „Vielleicht möchten sie [das Vereinigte Königreich] heute nicht verhandeln. Irgendwann später möchten sie es vielleicht. Viele Positionen haben sich im Laufe der Zeit verändert.“
Daß Mileis vager Optimismus nicht aus der Luft gegriffen ist, bezeugen Stimmen wachsenden Unmuts in der britischen Gesellschaft, die gern und rege von der argentinischen Presse aufgegriffen werden. So erklärten in einer YouGov-Umfrage vom vergangenen Jahr bereits 16 Prozent aller befragten Briten, daß die Falklandinseln an Argentinien übergeben werden sollten. Ein Jahr zuvor titelte die britische Tageszeitung The Guardian sogar: „Die britische Souveränität über die Falklandinseln ist ein absurdes imperiales Relikt, das ein Ende haben muß.“ Die Argumentation jener Fürsprecher: Allein die Verteidigung der Inseln koste den britischen Steuerzahler jährlich umgerechnet über 70 Millionen Euro. Für diese Summe könnten 150.000 Kinder jeden Schultag des Jahres ein kostenloses Essen bekommen. Dem entgegen steht allerdings die vor 14 Jahren erfolgte Entdeckung reichhaltiger Erdölvorkommen vor der Küste, auf welche das Vereinigte Königreich nicht zu verzichten gedenkt.
Gänzlich ausgeschlossen sind derartige Deals nicht: Zwar zählen die „Britischen Überseegebiete“ noch immer 14 Territorien und Inselgruppen, die sich vor allem über Zypern und Gibraltar, die Karibik und den südlichen Atlantik erstrecken. In einer historischen Einigung konnte der Inselstaat Mauritius hingegen am 3. Oktober dieses Jahres die Übergabe des britischen Chagos-Archipels im Indischen Ozean aushandeln. Mit einer kleinen Ausnahme: Auf dem Atoll Diego Garcia dürfen britische Truppen auch weitere 99 Jahre stationiert bleiben.
Deutlich bescheidener als die Britischen Überseegebiete nehmen sich die postkolonialen Besitztümer des Königreichs der Niederlande aus. Dafür präsentieren sich diese mit einer nahezu unbekannten geographischen Besonderheit: Auf der kleinen Karibikinsel Sint Maarten existiert die einzige Landesgrenze der Niederlande zu Frankreich, welches den nördlichen Teil der Insel besitzt. Bis 1954 noch als Überseekolonie geführt, konnte Aruba bereits 1985 den Status eines eigenständigen Landes innerhalb des Königreichs der Niederlande erwerben; Sint Maarten und Curaçao folgten diesem Schritt mit der Auflösung der Niederländischen Antillen im Oktober 2010. Zeitgleich erhielten die Karibikinseln Bonaire, Sint Eustatius und Saba, die zusammen auf kaum 30.000 Einwohner kommen, das Privileg der Einstufung als „Besondere Gemeinden“ der europäischen Niederlande.
Die Gründe für die Auflösung der Niederländischen Antillen waren vor allem wirtschaftlicher und kultureller Natur. So sprechen die Einwohner der nahe Venezuela gelegenen ABC-Inseln, benannt nach ihren Anfangsbuchstaben, ein auf dem Portugiesischen basierendes Kreol, jene der Inseln im Norden hingegen Englisch. Überdies hatte die Inselgruppe bis 2010 mehr als zwei Milliarden Euro Schulden beim niederländischen Staat angehäuft. Für die extreme Verschuldung suchten die kleineren Inseln besonders in der Verwaltung Curaçaos den Verantwortlichen. Eine vollständige Unabhängigkeit von den Niederlanden stand jedoch nie zur Debatte. Zu deutlich stand den Inseln das Schicksal des südamerikanischen Suriname vor Augen, welches sich 1975 von den Niederlanden löste, nur um anschließend in Bürgerkrieg, Diktatur und bitterer Armut zu enden. Bei Referenden im Jahr 1993 stimmten auf Sint Marteen lediglich 6,3 Prozent der Einwohner für ihre Unabhängigkeit; auf allen anderen Inseln lag die Anzahl der Befürworter sogar nur im Promillebereich. Zur Parlamentswahl im vergangenen Jahr votierten hingegen fast elf Prozent für die rechte niederländische Partei PVV – ein Achtungserfolg für Geert Wilders.
Und selbstverständlich auch ein Anreiz für Patricia Chagnon, ihr Glück ebenso in Übersee zu suchen: Nachdem sie vom Rassemblement National (RN) nicht mehr für das EU-Parlament nominiert worden war, ließ sich die Französin als RN-Direktkandidatin in der Gemeinde Saint-Pierre und Miquelon aufstellen. Seit spätestens 1670 siedeln hier französische Fischer. Mit ihren rund 5.800 Einwohnern zählt die Inselgruppe vor der Ostküste Kanadas als kleinster Wahlkreis Frankreichs. Chagnons rund zehntausend eigens für den Wahlkampf zurückgelegte Flugkilometer hatten sich allerdings nicht gelohnt. Nur 291 Wähler konnte sie für sich gewinnen und belegte damit mit nur 10,6 Prozent den letzten der fünf Kandidatenplätze.
Dreizehn Überseegebiete nennt Frankreich noch sein eigen, fünf davon – die Übersee-Départements Guadeloupe, Martinique, Mayotte, Réunion sowie auf dem südamerikanischen Festland Französisch-Guayana – sind sogar der Europäischen Union angegliedert, nicht jedoch dem Schengen-Raum. Mit sämtlichen anderen französischen Überseegebieten kooperiert die EU eng in wirtschaftlichen und kulturellen, insbesondere aber auch in Umwelt- und Artenschutzbelangen.
Illegale Migranten fliehen gern auf die französische Insel Mayotte
Für die EU ein nicht unproblematischer Akt: Immerhin rebellieren auf der französischen Pazifik-insel Neukaledonien Separatisten des indigenen Volkes der Kanaken seit Mai dieses Jahres auch mit zunehmender Gewalt, in deren Folge Brandanschläge und Auseinandersetzungen samt mehreren Toten vermeldet wurden. Und in Mayotte – zwischen Madagaskar und Mosambik gelegen und somit nach Réunion zweitsüdlichstes Gebiet der EU – mehren sich die Proteste der Einheimischen gegen eine Vielzahl neu auftauchender illegaler Bootsmigranten aus Ostafrika. Um diesen Unmut aufzufangen, besuchte Marine Le Pen (Rassemblement National) zwei Monate vor der EU-Wahl Mayotte und beschuldigte die Regierung Macron, die Insel dem „Chaos“ zu überlassen.
Genährt wird die angespannte Stimmung durch jüngste Gebietsansprüche des benachbarten Inselstaats der Komoren. Dieser erlangte 1975 seine Unabhängigkeit von Frankreich, allerdings ohne die dem Archipel zugehörige Insel Mayotte. Viele der auf Mayotte landenden Migranten stammen von den Komoren; deren Regierung in Moroni verweigert Frankreich jedoch die Rückführung, weil sie den Zustrom nicht bewältigen könne.
Ein Dutzend Bürgermeister aus mehreren Städten der komorischen Insel Anjouan protestierten im August in der Hauptstadt Mutsamudu gegen die umstrittene französische Operation Wuambushu, die darauf abzielt, Migranten ohne Papiere, darunter viele Komorer, von der französischen Insel Mayotte zu vertreiben. Nach Angaben von Zarouki Bouchrane, dem Bürgermeister von Mutsamudu, kann seine Stadt nicht alle Menschen aufnehmen, die regelmäßig aus Mayotte ausgewiesen werden.
Fotos: Zwei Veteranen nehmen an der Parade zum Unabhängigkeitstag, 9. Juli 2024, teil und tragen eine argentinische Flagge mit dem Bild der Falklandinseln und der Aufschrift „Wir haben mit Ehre gekämpft“: Präsident Javier Milei spielt auf Zeit, Marine Le Pen (Rassemblement National) bei ihrem Besuch auf Mayotte im April 2024: „Die Regierung Macron überläßt die französische Insel dem Chaos“