Es ist eine seltsame Nachricht aus der Ostukraine, die sich im Verlauf der vergangenen Woche wie ein Lauffeuer in den sozialen Netzwerken verbreitete. Über von der Ukraine kontrolliertem Territorium schoß ein bemanntes ein unbemanntes Flugzeug ab, ein Vorgang wie er häufiger vorkommt seitdem sich die Kampfhandlungen zunehmend auf bewaffnete und unbewaffnete Drohnen stützen.
Doch hier handelte es sich um zwei russische Waffensysteme, auf der einen Seite ein Exemplar der hochmodernen Su-57, ein Tarnkappenjäger, der mit den modernsten amerikanischen Jets mithalten soll, und auf der anderen Seite eine S-70- Drohne. Während westliche Analysten seit Jahren die Entwicklung der Su-57 verfolgen, verwiesen einige Nato-Experten die Existenz der Drohne bislang in das Reich der Phantasie. Kein Wunder, das autonome Fluggerät wirkt wie aus einem Science-fiction-Film. Doch nun, Anfang Oktober auf einem Trümmerfeld in der Nähe der Stadt Kostyantynivka liegt ein Exemplar der russischen Wunderdrohne, abgeschossen von einem russischen Piloten. Offenbar entwickelte die Drohne ein Eigenleben. Um das System nicht intakt in die Hände westlicher Experten fallen zu lassen, hatte man sich offenbar dazu entschlossen, die milliardenteure Technik selbst zu zerstören.
Eine eher abenteuerliche Episode aus einem unverändert hart umkämpften Kriegsschauplatz und eine der selten gewordenen guten Nachrichten für die ukrainische Seite. Denn zunehmend liegt das Momentum wieder bei Rußland. Nach der Eroberung der Stadt Avdiivka im Februar dieses Jahres konnten russische Einheiten in den vergangenen Wochen beim Vormarsch in rascher Folge weitere Kleinstädte unter ihre Kontrolle bringen.
Zunehmend greift Kiew auf Zwangsrekrutierungen zurück
Auch der ukrainische Vorstoß in die russische Region Kursk brachte kaum eine Entlastung. Im Gegenteil: Die für die ukrainische Offensive benötigten Einheiten fehlen bei der Verteidigung im Osten. Immer schneller schob sich in den vergangenen Monaten der russische Keil nach Westen. Ein Zustand, für den altgediente Veteranen auch die desolate Lage vieler ukrainischer Rekruten verantwortlich machen.
Zunehmend greift die Regierung in Kiew auf Zwangsrekrutierungen zurück, Greiftrupps verhaften zum Wehrdienst eingezogene auf offener Straße oder in Fitneßstudios. Die so Rekrutierten seien „völlig außer Kontrolle“, wie es ein Offizier des Freiwilligenbattaillons Azov in einem Video beschreibt, das im Internet kursiert. Die neu eingetroffenen Soldaten könnten „keinen Feind bekämpfen“, seien „kaum ausgebildet“ und hätten „kein Vertrauen in die militärische Planung“.
Selbst aus den ukrainisch besetzten Gebieten in Rußland melden Analysten und anonyme ukrainische Quellen zunehmend schlechte Nachrichten. Der russischen Gegenoffensive scheint es zeitweise gelungen zu sein, die ukrainische Front zu spalten. Wiederholt, so ein ukrainischer Offizier gegenüber der Washington Post, mußten sich die eigenen Truppen zurückziehen, um nicht von überlegenen russischen Einheiten eingekesselt zu werden. Etwa 700 der ursprünglich 1.000 Quadratkilometer russischen Territoriums befinden sich noch unter ukrainischer Kontrolle. Ein Verlust, der die von Beginn an umstrittene Offensive zunehmend zu einem Mißerfolg werden läßt.
Denn ursprünglich hätte jeder einzelne Quadratmeter ein Unterpfand in kommenden Friedensverhandlungen werden sollen. Doch ohne ein militärisches Wunder dürfte dieser Plan der ukrainischen Militärführung nicht aufgehen. Stattdessen befürchten einige nun einen vollständigen Kollaps an beiden Fronten. Die Ukraine stünde dann zu Beginn des Winters mit leeren Händen da. Ein Zustand, des Präsident Wolodymyr Selenskyj eigentlich vermeiden wollte. Noch vor der US-Präsidentenwahl wollte der ukrainische Staatschef Fakten schaffen für den Fall eines Wahlsiegs von Donald Trump. Je mehr russisches Territorium unter ukrainischer Kontrolle, um so größer die russischen Zugeständnisse, so das Kalkül.
Fragen nach Gefallenen weicht Moskau lieber aus
Erschwerend kommt für die Regierung in Kiew hinzu, daß sich bei den westlichen Verbündeten zunehmend Kriegsmüdigkeit breitmacht. Der Konflikt im Nahen Osten überschattet in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit längst den Krieg in Osteuropa. Da helfen auch einzelne Erfolge ukrainischer Drohnen tief im Landesinneren des russischen Riesenreichs nicht. Außerhalb der Ukraine werden diese kaum registriert. Ein ungewohntes Problem für den ukrainischen Marketingprofi Selenskyj.
Auf russischer Seite hüllt man sich hingegen in Schweigen. Das dürfte auch daran liegen, daß die Dynamik des Krieges längst ein bizarres Eigenleben angenommen hat. Aus einem kurzen, schnellen Krieg der Hightech-Waffen ist ein Potpourri aller Grausamkeiten geworden, die die Kriegführung seit 1914 prägen: Ausgedehnte Stellungssysteme mit Gräben und Bunkern, Materialschlachten mit hohem Blutzoll, massierte Angriffe mit gepanzerten Einheiten aus Sowjetproduktion, bunt zusammengewürfelte Infanterietrupps aus Tschetschenen, russischen Sträflingen und nordkoreanischen Söldnern und über alledem ein Himmel voller Drohnen aus den Waffenkammern aller Herren Länder.
Auch bei Fragen nach Gefallenen oder Verwundeten hält man sich in Rußland zurück. bereits bei der Einnahme der Stadt Avdiivka sollen nach ukrainischen Angaben mehr russische Soldaten gefallen sein als beim sowjetisch-afghanischen Krieg in den achtziger Jahren. Beitrag Seite 1