Als der Neubrandenburger Stadtrat mit einer Mehrheit von 15 zu elf Stimmen für das Abhängen der Regenbogenflagge vor dem Bahnhof der Stadt votierte, reichte es Silvio Witt. Der parteilose Oberbürgermeister der Kreisstadt in Mecklenburg-Vorpommern erklärte seinen Rücktritt. Zwar brachte Witt, der 2022 mit satten 87,5 Prozent erneut ins Amt gewählt wurde, den Schritt nicht mit dem Beschluß der Ratsherren in Verbindung – bei einer Veranstaltung der Körber-Stiftung in Berlin sprach der Mann mit Schnurrbart und kurzer Mähne nur vom „Druck“, der auf ihm und seiner Familie wegen seines Amtes laste.
Trotzdem war die persönliche Niederlage für den 46jährigen, der vor seiner Politiklaufbahn als Kabarettist und Kommunikationsberater tätig war, mehr als augenscheinlich. Setzte er sich doch öffentlichkeitswirksam für eine LGBTQ-freundliche Stadtpolitik ein, etwa als Schirmherr des Christopher Streets Days. Am Tag nach der Stadtratssitzung versammelten sich laut dem Nordkurier rund 200 Menschen um den leeren Fahnenmast, um gegen den Beschluß zu demonstrieren. Mittlerweile unterschrieben Tausende eine Petition zur Wiederbeflaggung.
Bürgermeister gegen Ratsherren gegen Bürger
Daß die Fahne in den Jahren zuvor immer wieder geklaut wurde, galt zunächst als Posse. Diese wurde allerdings zu einem handfesten Skandal, als das bunte Stück Stoff über Nacht mit einer Hakenkreuzfahne ausgetauscht wurde – und das gleich mehrmals. Ein Imageschaden für die Stadt, die sich mit einer Stadtmauer, vier mittelalterlichen Toren und dem malerischen Tollensesee schmückt.
„Die Regenbogenflagge steht für Vielfalt, Freiheit und gleiche Rechte. Genau dafür wird sie von Extremisten angegriffen. Es ist beschämend, daß der Stadtrat Neubrandenburg dem jetzt nachgibt“, schrieb etwa der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann (Grüne). Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (ebenfalls Grüne) sekundierte: Niemand solle noch sagen, „Mensch“ habe es nicht gewußt. Besonders das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) steht in der Kritik, weil der Antrag des fraktionslosen Ratsherren Tim Großmüller mit seinen Stimmen durch das Stadtparlament ging. „Das BSW stimmte gegen den Regenbogen gemeinsam mit den Rechten und Ultrarechten“, kreidet beispielsweise Thüringens kommissarischer Ministerpräsident Bodo Ramelow der Partei in den sozialen Netzen an.
Das Votum bildet den Höhepunkt einer langen Reihe von Gemeinheiten, die der Oberbürgermeister und die Abgeordneten im Rathaus seit Jahren austauschen. Bereits 2022 war die CDU-Fraktion im Stadtrat wegen des Vorwurfs auseinandergebrochen, der OB würde Abgeordnete mobben. Die Christdemokraten hatten Witt im Wahlkampf unterstützt. Der Verdacht konnte jedoch nie erhärtet werden.
2023 ließ Witt die Stadtvertreter bei der Initiative „Guter Rat für mehr Respekt“ mitmachen, um das Arbeitsklima zu verbessern. „Dieses Projekt war aus unserer Sicht unnötig und hat den Steuerzahler unnötig Geld gekostet“, kommentierte die AfD die Maßnahme gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Die Stimmung der Politiker untereinander sei „gut“ und „fair“ gewesen, betont der Fraktionsvorsitzende Peter Fink. Nur vom Bürgermeister habe man sich mehr Gehör gewünscht. „Konstruktive Anträge sind kein Mobbing, sondern Demokratie.“
Verbessert hat sich die Atmosphäre auch seit der Kommunalwahl im Juni dieses Jahres nicht. Mit 21 Prozent wurde die AfD erstmals stärkste Kraft im Rat, im Schlepptau mehrere Bürgerinitiativen, die ebenfalls in der Pandemie und Energiekrise stark geworden sind. Auch die Köpfe der Protestbewegung „Unternehmeraufstand MV“ haben es ins Rathaus geschafft. Sie haben sich im Wählerverbund Projekt NB organisiert, der sich nun um Zurückhaltung bemüht. Der JUNGEN FREIHEIT gegenüber betont dessen Fraktionschef Roman Kubetschek, man wolle sich nicht an Spekulationen rund um Witts Rücktritt beteiligen. „Dieses würde gegenüber dem Amt und der Person des Oberbürgermeisters absolut unangemessen sein.“ Trotzdem darf schon die Existenz von Wählerinitiativen wie Projekt NB, Stabile Bürger Neubrandenburg oder Bürger für Neubrandenburg als Beleg für die Entfremdung von Stadt und Oberbürgermeister gewertet werden.
In einem Interview mit der Berliner Zeitung machte sich Witt zuletzt merklich Luft über die Vier-Tore-Städter. Oft würden Leute zu ihm kommen und sich beschweren, daß im Viertel Müll auf die Straße gekippt werde. Im Frühjahr bereits hatte die Wohnungsgesellschaft Neuwoges unter dem Motto „Neubrandenburg putzt sich raus“ ein Reinemachen veranstaltet, um des Problems Herr zu werden.
Witt dazu nur: „Da ich gut vorbereitet bin, habe ich Fotos von früher dabei. Auf denen sieht man, daß damals das Gras aus den brüchigen Bürgersteigen wuchs.“ Jetzt komme auch noch die Energiepolitik und die Rußlandpolitik hinzu. Menschen, die kaum die Zuständigkeiten in einer Kommune verstünden, täten auf einmal so, als wüßten sie, wie man mit Rußland verhandeln müsse. „Ich bin immer wieder erstaunt, daß die Politik nicht den Mut hat zu sagen: Davon haben Sie doch keine Ahnung“, so Witt. Er selbst hat es seinen Neubrandenburgern mit diesem Interview auf jeden Fall gesagt.
Daß diese sich nicht immer auf die feine englische Art revanchieren, mag indes eine Bemerkung Witts bei der Körber-Stiftung belegen: „Die sozialen Medien tun ihr übriges.“