© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

„Mehr Furchtlosigkeit wagen!“
Interview: Die vielgelobte Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini wagt sich an das Tabu der Gegenwartsliteratur: Mit ihrem Roman-Zyklus legt sie dem zerrütteten deutschen Nationalbewußtsein ihre heilenden Hände auf
Moritz Schwarz

Frau Kühsel-Hussaini, die Meldestelle „REspect“ der Bundesnetzagentur sorgt künftig dafür, daß online „Haß und Fake News ohne bürokratische Hürde schnell entfernt werden“. Fühlen Sie sich auch so beruhigt?

Mariam Kühsel-Hussaini: In Deutschland hat man zu viel Angst und zu wenig Respekt, da zäumt man mit Meldestellen dieser Art das Pferd von hinten auf. Es hat sich seit dem Mittelalter, als man den Leuten ihre Mündigkeit per Ablaß und Spekulation auf ihre Schuld abkaufte, nicht viel verändert. 

Laut Netzagentur „geht es nicht um Zensur“. 

Kühsel-Hussaini: Wenn wir schon im Mittelalter sind: Wußten Sie, daß der Teufel bisweilen Gewänder in Grün trägt? Und gibt es nicht auch allerlei kriechend Getier und Drachenwesen, grün geschuppt?

Wie frei ist das Wort in Deutschland noch?

Kühsel-Hussaini: Das Wort selbst bedarf nicht des Menschen, um frei oder gefangen zu sein. Das Wort steht über dem Menschen, zugleich ist es seine Schöpfung. Doch das Spiel und das Geschäft mit der Sprache sind das Verderben. Worte leben in uns und können alles erschaffen und alles zerstören. Die Sprache schlägt zurück, wenn man sie mißbraucht. Schlägt zurück in Form von Wahnsinn, wie der, der da draußen lauert.


Aber wir leben doch „im besten Deutschland, das es je gegeben hat“, wie uns der Bundespräsident versichert. 

Kühsel-Hussaini: Da haben Sie gleich ein Beispiel für dieses Treiben, die Umkehrung des Wortteppichs: Eine Sache wird so lange behauptet, bis man sie glaubt. In dem Sinne – was kann Übles an einem Deutschland sein, das den Rest der Welt zu sich holt, Geschlechter ermöglicht, die es gar nicht gibt und Windräder aufstellt? Was nach einem Horror-Astrid-Lindgren klingt, wird als bestes Deutschland zelebriert. Wie schreibt Orwell in bezug auf die Gedankenpolizei: Geistig gesund zu bleiben sei das Wichtigste. Darin liege das Erbe der Menschheit, und wer sich dieser Kontinuität anschließe – sagen wir, wie an ein Ganzes (Schiller) –, der müsse sich nicht fürchten. Vor nichts und niemandem.

Das sieht der Bundeskanzler anders, der in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit die „Vernünftigen und Anständigen“ vor jenen gewarnt hat, die sich „für eine autoritäre, radikalnationale Politik entscheiden …, die unsere freiheitliche Demokratie bekämpft“ und die „nur motzen“, statt „für unser Land anzupacken“. 

Kühsel-Hussaini: Also ich motze den lieben langen Tag. Ich bin sehr fleißig und selbstverständlich höchst unanständig. Ich finde nix Schlimmes an Autoritäten, aber ich werde mich niemals und niemandem unterwerfen. Ich kenne dieses Land besser und feinschmeckender und bittersüßer als jeder Verfasser der Remigrations-Schande. Radikalnational klingt etwas plump für ein an sich edles Ansinnen, nämlich das Eigene um jeden Preis bewahren zu wollen. Ich verehre Bismarck und träume von süddeutscher Hanglage am Abend, wenn man von fern die Silberblitze in die düsterweiche Sommersilhouette einstechen sieht. Ich wähle keine Partei, weil ich nicht an die Natürlichkeit der Politik glaube. Eher an das auf Jahrzehnte Vorprogrammierte, wie Rudolf Augstein einmal beklagte. Sie müssen also für in jeder nur denkbaren Hinsicht Abtrünnige wie mich ein drittes Lager öffnen.

Gerne, wie wäre es statt mit einem politischen, mit einem Lager der Künstler und Schriftsteller, denen nach landläufiger Vorstellung ja eine Art gesellschaftliche Vorwarnfunktion zufällt: Was kommt nach Ihrem Gespür denn auf uns zu?

Kühsel-Hussaini: Tucholsky und Ossietzky trugen dieses Gespür in sich, genauso wie ein erster Gestapo-Chef Rudolf Diels. Das waren Männer, die die deutschen Jahrhunderte in sich siebten, mit allen Psychologien, historischen Krankheiten, nationalistischen Fehlentwicklungen und menschlichem Kummer. Selbst involviert in das ganze Verhängnis ihrer Zeit, waren sie zugleich Beobachter und behielten mit ihrer Wettervorhersage recht. Ich selbst, als Zwerg auf deren Schultern, fühle, daß etwas nicht stimmt. Ich fühle eine Härte in den Gesichtern, Abscheu der Politik den Menschen gegenüber. Ich fühle das Einläuten eines Endes, das noch lange dauern wird. Fühle mich wie unglücklich verliebt. Ich will dieses Land, doch berühre ich den Wind, beißt etwas nach meinen Fingerkuppen. Ich fühle Sehnsucht, die ganze Zeit! Ich gehe mit dieser Sehnsucht schlafen, ich wache mit ihr auf. Unheil fühle ich in der Gestalt der Person im Außenministerium. Gutes fühle ich in der Leidenschaft Markus Söders. Und ich muß ehrlich und perplex und geschmeichelt schmunzeln, wenn Alice Weidel, bezaubernd wie ein Eulenspiegel, bekennt: Rechts ist keine Kategorie. Das alles fühle ich.

Wie sind wir eigentlich in die Misere, die Ihnen so zu schaffen macht, geraten? Wollten wir Deutsche nach 1945 doch diesmal alles richtig machen

Kühsel-Hussaini: Die Schablone, die 1945 angelegt wurde, hat so „gut“ funktioniert, weil der Deutsche immer funktioniert, selbst tot, und wie kein anderer alles mitmacht. Die jeweilige Position bestimmt hier, schon mit Beginn der Jahrhundertwende war das so. Die große Entseelung durch Industrialisierung und Wirtschaftsgigantomanie schritt voran, mit ihr fraßen die Monster der Bürokratie sich durch jede Leichtigkeit, durch jeden noch offenen Zustand, durch jedes Gedicht. Alles und jeder muß hier stets einsortiert werden, und wenn es nicht paßt, dann drück’s halt rein, notfalls brich denjenigen! Das leise Zerhacken dieses Landes von innen heraus kam schon in der unwürdigen Weimarer Republik auf. Nicht das Ich desjenigen zählte mehr, nicht seine Talente, nicht sein Bekenntnis zu einem ewigen Humanismus, nicht seine Fähigkeiten oder sein gesundes Irresein an der Sache, sondern seine Stellung und ein ganzheitlicher Militarismus. Strukturen zuhauf, Persönlichkeiten kaum und die Links-Rechts-Falle. Genau wie jetzt.

Die Zeitschrift „Tumult“ sagt, Sie kämpften „mit einer Unbefangenheit, zu der kein Autor deutscher Abstammung fähig wäre, furios gegen das Abgleiten der Deutschen ‘in die totale Unmündigkeit’.“ Fühlen Sie sich damit treffend beschrieben?

Kühsel-Hussaini: Der Herr über Tumult, Frank Böckelmann, der mir Freund und Vertrauter ist, ist selbst und zuallererst ein Kämpfer. Er war da, ohne mit der Wimper zu zucken, als ich mit meinem Roman „57“ anklopfte. Er hat alles verstanden. Jede Not, jede Verkörperung, jede Volte darin. Weil er in denselben Spiegel blickt. In die Täuschungen, die seither betrieben werden, die Erpressungen, die einhergehen mit der unleugbaren, von mir ausführlich beschriebenen (!) Mordmaschinerie des Dritten Reichs. Der Chefredakteur der JF ist auch ein Kämpfer. Ich habe abseits schon scharf gesprochen, dennoch gewährt er mir hier Raum für meine freiesten Gedanken und Äußerungen. Das hat Klasse.

Ihren Kampf führen Sie vor allem mit Ihren Romanen „Tschudi“, „Emil“, „57“ und „Tucholsky“. Was setzen Sie in ihnen dem von Ihnen Kritisierten entgegen?

Kühsel-Hussaini: Richtiger wäre, was entgegne ich dem Narrativ? Beginnt ja schon mit „Tschudi“, da – stellen Sie sich das mal vor – darf Kaiser Willy Zwo ein richtiges, menschliches Wesen sein. (Laut Heine stammte der nämlich eigentlich von Pferden ab.) In „Emil“ begehe ich das Großverbrechen, aus dem Kopf der echten Beteiligten von 1933 heraus zu denken und nicht etwa aus den externen Vorwürfen retardierter Nachgeborener. In „57“, meinem literarischen Todesurteil, habe ich doch allen Ernstes die Frechheit, den ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels anhand seines Nachlasses ins klärende Licht zu rücken – fort ihn reißen aus dem Scheinwerfer der Lügen, raus ihm ziehen die Vampirbeißer, wegjagen die Krakeeler um ihn herum, die seine vornehme und überragende Persönlichkeit bis heute besudeln. Wären wir schließlich bei „Tucholsky“, der rücksichtslos deutscher war als unser faschistoid linker Zeitgeist erlaubt. Daß Tucho mit dem teuren Lackschuh im Geiste die Feder führte und sein Vaterland Deutschland – jenseits aller Fahnen und Hymnen und jenseits aller Nazis – vergötterte und daß Oss unabhängig von Partei und Rang von seinem Weltbühne-Schiff aus einen Jeden anging, der Deutschland nicht als Schatz begriff, sondern als Material gefährdete, das wollen sie nicht wahrhaben, die kleinen Mitläufer.

Was macht Ihrer Ansicht nach das wahre Deutschland, das Sie da beschwören, aus?

Kühsel-Hussaini: Es will lieben und geliebt werden. Bei Heine küßt und spricht sogar das Veilchen deutsch – das küßte mich und sprach auf deutsch:  ich liebe dich!

Im Alter von drei Jahren kamen Sie mit Ihren Eltern nach Deutschland. Wie sind Sie aufgewachsen, als Afghanin, als Deutsche, als das Beste aus beidem?

Kühsel-Hussaini: Ich bin Deutsche! Mein Herz träumt einzig hier, mein Geist ist hier zu Hause, hier bin ich zu mir gekommen, hier will ich sein. Mein Herkommen aus einer alten afghanischen Familie wird stets ein innerer, romantischer Reichtum bleiben, der allerdings mit dem heutigen, bis in die letzten Zauberpartikel ausgetauschten Kabul nichts mehr zu tun hat. Wenn Afghanistan, dann das Erbgut Persönlichkeit!

Wie hat Ihre literarische und intellektuelle Umwelt auf Ihre jüngsten vier Romane reagiert?

Kühsel-Hussaini: Die Klugen reagierten klug, die Dummen bestätigten ihre Dummheit. „Ist doch aber nochmal alles gutgegangen mit uns Deutschen“, war sicher unter den auf Hirntod gestellten Reaktionen eines Verlegers die unschlagbarste. Aber auch: „Man darf doch nicht relativieren“, steht ganz oben auf der Liste. Nein! Nix ist gutgegangen! Und nein! Niemand relativiert, doch diese Menschheit muß sich einen Erdball teilen, der allen gehört, folglich auch einer jeden Geschichte und einem jeden Land – sonst hebt sich die Würde des Menschen von allein wieder auf. Darf der Deutsche nicht wie alle anderen auch ein Quantum Würde für seine Geschichte beanspruchen, gehört Würde keinem?

War Ihnen klar, welche Reaktionen auf Sie zukommen? Warum haben Sie das auf sich genommen?

Kühsel-Hussaini: Wahrheit ist das, was aus dem Schleim, dem Blut und den Wundern des Geschehenen und der Dichte und Fülle der Vergangenheit wie eine goldene Rose hervorblüht. Es gibt Zäsuren nach ’45, die die Verblendung und Verletzung dieses Landes verdeutlichen und die man benennen und offenbaren muß, wenn man eine Seele hat. Ich habe eine, die frißt mich auf. Ich kann gar nicht anders, als das niederzuschreiben und festzuhalten, was mir an verborgenem Material begegnet. Erst die Wahrheit macht den Glanz der Ehre von Literatur aus.

Nun macht man Ihnen die üblichen Vorwürfe von „rechts“ bis „Nazi“. Warum: Wider besseres Wissen oder versteht man Ihre Bücher gar nicht?

Kühsel-Hussaini: Daß in klein Erna, die in Literatursendungen endlich auch zu Wort kommen darf, nicht das Format eines, sagen wir mal, Thorsten Hinz funkeln kann, ist klar, und ich bin ja selbst auch nicht gerade von der netten Sorte. Zudem gehört auf den groben Klotz bekanntlich ein grober Keil. Ich nehme niemandem was übel, wohl aber kenne ich göttliche Wut und strafende Liebe und bin sozusagen schwerst und unheilbar verwundert über all die Geschichts-Lobotomisierten hierzulande – die begreifen es nicht mal, wenn es schwarz auf weiß dasteht. Ich ziehe derweil weiter, immerfort durch das grelle Science-fiction unserer kümmerlichen Tage. Keine Ahnung wohin. Meine Sprache wird immer da sein, selbst über meinen Tod hinaus. Was also sucht man an mir zu ersticken? Ersticken tun die doch an der Enge ihres Lebens, an der Folter ihrer verlogenen Weltbilder, daran, daß sie sich selbst hassen, für den Stillstand ihres Herzens und dafür, Fremde zu sein in ihrem eigenen Land – Uneingeweihte für immer, unbefriedigt seit Jahren. Armselig und nicht in Form, weil da kein Auftrag ist. Ich hingegen hatte eine Aufgabe, die habe ich erfüllt, und das bereitet mir eine unendliche Wonne. Und, glauben Sie mir, auf deren Party will ich gar nicht sein, ausgestattet mit dem billigen Gesöff ihres wertlosen Glücks, würde der heißgierig unermeßliche Schlund meines Wesens nicht mal nippen wollen!

Politisch ist in den vergangenen Jahren einiges ins Rutschen gekommen. Erwarten Sie ähnliches künftig auch für die Künstler- und Intellektuellenszene oder glauben Sie, einsame Ruferin in der Wüste zu bleiben?

Kühsel-Hussaini: Hier ist überhaupt nix ins Rutschen gekommen, höchstens ins Abrutschen. Mit keiner Szene habe ich was zu schaffen. Die unzähligen Bücher, die erscheinen, halte ich für Dreck. Das Echo ihrer Kritiker für Müll. Ein riesiges Nichts hat sich etabliert, ein vergammelnder Literaturbetrieb. Die guten Bücher werden jenseits davon gemacht, und selbst da schleicht sich schon was Faules ein. Mehr Furchtlosigkeit bitte! Mehr Genuß und Wissen! Überall dieses Bravtum und überall diese Hochstapler. Am unerträglichsten ist das Stumme, manchmal nachts, im Geäst, wenn es kurz erzittert. So etwas Verlorenes … Wenn man ein Land daran hindert, seine eigene Geschichte auch selbst nachzuvollziehen, wie es die Nürnberger Prozesse und Adenauer mit der Kastration Deutschlands machten, werden sich innerste Aggressionen bilden, über Generationen. Und diejenigen, mit dem geringsten Persönlichkeitsgehalt, kommen dann an die Oberfläche und treiben ihr Unwesen – von neuem, wie negative Ventile. Polieren wir also das letzte Stück Edelstein, das da vor uns schwebt in der Luft, das da liegt in der Zeit und das da wie das Pink-Floyd-Prisma sich dreht und dreht! Behauchen wir es und bringen wir es zum blendenden Schimmern, noch ein Mal! Dieser Edelstein will keine Linken und will keine Rechten und keine politischen Szenegeschäftsmodelle auf Kosten der Nerven von Männern und Frauen in diesem Land. Dieser Edelstein will freie Deutsche, die einander erkennen und nicht die Welt hierher verlagern, sondern sich in der Welt an ihrem Punkt verorten und erfüllen.


  

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 als Tochter des afghanischen Dichters Sayed Rafat Hussaini und Enkelin des Kalligraphen Sayed Da‘ud Hussaini in Kabul geboren. 1990 kam sie nach Deutschland und wuchs bei Stuttgart auf. 2010 gelang ihr mit ihrem vielbeachteten und „eindrucksvollen“ (Dennis Scheck) Debütroman „Gott im Reiskorn“ ein „Glücksfall ... voller Ausdruckskraft“ (Martin Walser), denn „solches hat man lange nicht mehr gelesen ... vielleicht noch nie“ (NZZ). Zuletzt erschienen ihre Romane „Tschudi“ (2020), den Elke Heidenreich in der Zeit für seine „Kunst des federleichten Erzählens“ lobte und in dem es um den bedeutenden Direktor der Nationalgalerie Berlin zur Kaiserzeit Hugo von Tschudi geht, „Emil“ (2022), der dem Philosophen Emil Cioran gewidmet ist, „57“, der Rudolf Diels dem Vergessen entreißt, sowie „Tucholsky“ (2024).