Während sich die Ukraine für einen dritten Kriegswinter rüstet, hat es den Anschein, als könne der Konflikt mit seinen schrecklichen Verlusten noch lange andauern. In Berlin verbreitete Außenministerin Annalena Baerbock, der russische Präsident wolle mit dem deutschen Kanzler nicht einmal mehr telefonieren – was vom Sprecher des Kreml inzwischen bestritten wurde. Kiew wiederum legte einen „Siegesplan“ vor, der die Ausweitung des Krieges auf das Gebiet der Russischen Föderation vorsieht und der eine Menge von Tabellen und mathematischen Berechnungen enthält – worauf ein Clausewitz skeptisch reagiert hätte, weil er den Verlauf von Kriegen für schwer kalkulierbar hielt. Und dann reiste der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in die für wichtig gehaltenen europäischen Hauptstädte und beendete seine Tour am vergangenen Freitag mit einem Besuch bei Olaf Scholz. Der rühmte zu Recht den Heldenmut und die Tapferkeit der Ukrainer und versprach: „Deutschland steht weiterhin fest an der Seite der Ukraine.“
Tatsächlich sind die bisherigen deutschen Leistungen herausragend. Einschließlich des deutschen Anteils an den EU-Hilfen hat die Bundesregierung seit Beginn des Krieges Waffen und Munition für 25 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und damit mehr als jedes andere Nato-Land außer den USA. Zusammen mit den Ausgaben für ukrainische Flüchtlinge waren es 45,7 Milliarden. Was mindestens zwei Fragen aufwirft: Wie lange läßt sich diese außergewöhnliche Belastung der klammen deutschen Staatsfinanzen durchhalten? Und: Steht Berlin eigentlich hinter dem ukrainischen „Siegesplan“? Eher nicht, denn dieser setzt den Einsatz weitreichender Waffensysteme voraus, und die will Deutschland nicht liefern, wobei sich der SPD-Kanzler auf die gleichermaßen ablehnende Haltung Washingtons beruft. Die aber könnte sich vielleicht nach den amerikanischen Wahlen am 5. November ändern, falls Kamala Harris gewinnt, und damit hätten die Amerikaner wieder einmal das letzte Wort.
Scholz und sein Verteidigungsminister sind selbstverständlich über den Stand des Krieges genau im Bild, nur sprechen sie öffentlich nicht darüber. Sie müssen alarmiert darüber gewesen sein, daß am 1. Oktober der über zwei Jahre währende Kampf um Wuhledar im Süden des Donabass zu Ende ging. Die Russen hißten ihre Trikolore über den Hochhäusern der Kohle-Stadt und sicherten damit eine östlich verlaufende, für die Versorgung ihrer Truppen wichtige Eisenbahnlinie. Schlimmer noch: das dort eingesetzte ukrainische Bataillon hatte Befehle mißachtet und die Stellungen zu Fuß verlassen. Ein anderes Bataillon, das an die Front versetzt werden sollte, weigerte sich auszurücken. Das sind erste Indizien dafür, daß die ukrainische Front zusammenbrechen und Selenskyj den Krieg verlieren könnte. Gegenwärtig erschwert die Schlammperiode größere Vorstöße der Russen. Der später einsetzende Frost würde sie erleichtern.
So oder so steht fest, daß die ukrainische Armee zu schwach sein wird, um die Krim und den Donabass zurückzuerobern. Dazu ist die russische Überlegenheit an Truppen und Material zu groß. Taktisch aber haben die Ukrainer, nicht zuletzt dank der langjährigen Ausbildung durch Nato-Inspekteure, meist überzeugen können. Im August eroberten sie innerhalb weniger Tage mehrere hundert Quadratkilometer russischen Territoriums in der Region Kursk, nachdem sie die Elektronik des Gegners lahmgelegt hatten. Dabei wurden auch deutsche Marder-Schützenpanzer eingesetzt. Die Schwächen des schwerfälligen russischen Militärapparates waren wieder einmal offenkundig. Es mangelte an Koordination der regulären Armee mit den Grenztruppen des Inlandsgeheimdienstes FSB und der Nationalgarde. Gleichwohl wird der Krieg keineswegs – wie 1943 in der größten Panzerschlacht der Geschichte – im Raum Kursk entschieden. Das Kalkül Selenskyjs, die Russen würden in Panik geraten und größere Einheiten aus dem Donabass in die Region Kursk verlegen, ist nicht aufgegangen. Der Kreml erträgt den Gesichtsverlust und kann sich mit der Rückeroberung Zeit lassen.
Die fast schon hektische Reisediplomatie Selenskyjs ist dem 5. November geschuldet. Er will die Deutschen und die anderen Europäer ins Boot holen für den Fall, daß Donald Trump gewinnt. Der hat für die Ukraine wenig übrig. Er glaubt nicht, daß dort amerikanische Interessen auf dem Spiel stehen. Er behauptet, den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden zu können. Eine für ihn typische Übertreibung, hinter der nur die Idee stehen kann, Kiew mit dem Entzug der Waffenhilfe zu drohen und dazu zu bringen, in einen Deal „Land gegen Frieden“ einzuwilligen. Dann wären die Krim und der Donabass verloren, und auf dieser Basis wäre auch Putin zu Verhandlungen und einem Friedensabkommen bereit. Könnten die Europäer das verhindern? Realistischerweise nein. Ihnen bliebe nur die Aufgabe, den Wiederaufbau einer verkleinerten Ukraine zu finanzieren.
Die Alternative eines in die Länge gezogenen Krieges samt Eskalation wäre auch nicht erfreulich. Falls Kamala Harris gewinnt, könnte Biden in den verbleibenden zwei Monaten seiner Amtszeit die Zurückhaltung ablegen und Selenskyj grünes Licht für strategische Angriffe auf Rußland geben. Er bräuchte dann keine Rücksicht mehr auf den Wahlkämpfer Trump zu nehmen. Das Pentagon müßte allerdings mitspielen. Als US-Außenminister Antony Blinken und die führenden demokratischen Politiker Nancy Pelosi und Chuck Schumer im Frühjahr 2022 in der Ukraine eine „Flugverbotszone“ gegen russische Maschinen verhängen wollten, stellte sich das Verteidigungsministerium quer. Es wollte keine direkte militärische Konfrontation mit Rußland. Eben diese wäre unvermeidlich, sollte sich die Nato uneingeschränkt hinter Kiews neuen Siegesplan stellen.
Olaf Scholz deckt unterdessen seine Karten nicht auf – falls er welche in der Hand hat. Er wird den bevorstehenden Wahlkampf als „Friedenskanzler“ führen wollen. Nur weiß niemand, wie er sich ein Kriegsende vorstellt und wie weit er mit der oft beschworenen Unterstützung Kiews gehen würde. In der Ukraine greift ebenso wie im Westen Kriegsmüdigkeit um sich. Laut Meinungsumfragen vor Ort findet die Losung „Land gegen Frieden“ zunehmend Zuspruch. Noch ist ein Verhandlungsfrieden, der alle Seiten das Gesicht wahren läßt, schwer vorstellbar. Es fällt freilich auf, daß die drei deutschen Rüstungsaktien – Rheinmetall, Hensoldt und Renk – seit einiger Zeit schwach tendieren. Manchmal hat die Börse die bessere Witterung.