© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/24 / 11. Oktober 2024

Der Flaneur
Ein Sonntag im Weinberg
Holger Ziehm

Als ich Sonntag früh über die einsame Hochfläche rolle, ist kaum ein anderes Fahrzeug unterwegs. Die Sonne scheint, aber noch nicht so lange. In den Fluß- und Bachtälern unter mir liegen noch dicke Wolken. Nun muß ich dort hinab. Eine schöne Stimmung ist das trotzdem, als ich in die ersten Wolkenfetzen eintauche. Bald bin ich in dem Dorf, ich fahre durch enge Gassen mit Fachwerk. 

Schon lange wollte ich mal an der Weinlese teilnehmen, heute ist es soweit. Ich werde im Weingut freundlich begrüßt, bald geht es auch schon los. Es gibt eine kurze Einweisung durch die resolute und sehr kompetente junge Winzerin. Die Mannschaft besteht aus Familienangehörigen und Bekannten. Ein gutes Dutzend Helfer sind es, alles ist „ehrenamtlich“. Sogar zwei Jugendliche machen mit.

Es gibt eine schöne Brotzeit, und am Ende ist die strenge Winzerin mit der Lese zufrieden.

Die roten Trauben hängen so dick an den Reben. Wie im Bilderbuch sieht das aus. Längst scheint auch hier nun die Sonne. Jeder bekommt eine Reihe, es geht steil bergan. Der Eimer, in den die Trauben kommen, ist immer kurz vor dem Kippunkt, so scheint es. Auf den Ruf „Eimer“ werden die vollen Behälter seitlich durchgereicht und kommen leer zurück. Es geht zügig vorwärts, die scharfe Schere steht kaum still. Trotzdem bleibt auch Zeit für Momente des Innehaltens und Genießens der herrlichen Landschaft. Auf der anderen Flußseite steht jetzt der dicht bewaldete Steilhang im direkten Sonnenlicht. Über uns zeigt sich der tiefblaue Herbsthimmel. 

Die Winzerin gibt Gas, die Helfer sollen in einer Reihe laufen. „Ist ja wie auf dem Baumwollfeld früher“, maule ich. Die Winzerin manövriert den Spezialtraktor rückwärts durch eine ausgesuchte Rebenreihe. Die Trauben werden in den großen Kübel am Heck des Traktors geschüttet. Wenn der Trecker auch nur ansatzweise quer zum Hang gelenkt würde, würde er sofort umkippen. 

Mittags gibt es eine schöne Brotzeit auf dem Hof. Am Ende ist die „strenge“ Winzerin doch zufrieden. 2.200 Liter sind es, die die heutige Lese ergeben hat. Das wird hoffentlich ein schöner Spätburgunder. Ich selber trinke als Genießer sehr gerne mal einen guten Schoppen. Wer mal im Steilhang gestanden hat, kann es vielleicht noch besser wertschätzen. Ob ich wiederkommen möchte, werde ich noch gefragt.



Kinder haben eine Schatzkiste im Kopf, mit der sie wunderbare Dinge tun können

Christa Kożik, Schriftstellerin (*1941)