© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/24 / 11. Oktober 2024

Diversifizierung von Lieferketten
Selbst Kochsalzlösung ist Mangelware – wie Schmerzmittel, Fiebersenker und einige Antibiotika
Jörg Schierholz

Laut dem NRW-Gesundheitsministerium gibt es nun sogar einen Mangel an „steriler isotonischer Kochsalzlösung sowohl zu Infusions- als auch zu Spülzwecken“. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) rechnet damit, daß die Lieferengpässe bei der Firma Fresenius Kabi anhalten. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verwies hingegen auf „gleichwertige“ Importalternativen, die aber teilweise zeitverzögert geliefert würden. Zudem seien auch zusätzliche Produktionskapazitäten in Deutschland im Aufbau.

Die neue Posse überrascht Apotheker nicht. Sie kennen das von patentfreien, generischen Arzneimitteln, die das Rückgrat der Grundversorgung darstellen. Der monatelange Mangel an Fiebersäften oder auch dem Krebsmittel Tamoxifen ist noch gut in Erinnerung geblieben. Eine wichtige Ursache für den Mangel ist neben der überbordenden Bürokratie der extreme Kostendruck, der viele Pharmafirmen zum Rückzug aus der Produktion kostengünstiger Standardmedikamente trieb.

„Durch Flickschusterei kann sich die Lage nicht verbessern“

BMG-Chef Karl Lauterbach (SPD) sprach von einer „Überökonomisierung“ bei Generika, die zu den Engpässen beigetragen habe, so daß nun gehandelt werden müsse. Im Juli 2023 trat dann das Arzneimittel-Lieferengpaßbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) in Kraft mit dem Ziel, die „Diversifizierung von Lieferketten für die Wirkstoffe“ im patentfreien Arzneimittelmarkt zu erreichen. Bedauerlicherweise ging sein Ministerium von unrealistischen Annahmen aus. Der Aufbau einer Wirkstoffproduktion bei Antibiotika ist komplex und nicht in wenigen Monaten realisierbar. Auch bei patentfreien Krebsarzneimitteln halten die Lieferprobleme an. Die Schließung der letzten Produktionsstätte für das Schmerzmittel Novalgin (Wirkstoff Metamizol) in Europa und das mehrfache Ausrufen des Versorgungsmangels (Paragraph 79 des Arzneimittelgesetzes/AMG) bei so essentiellen Wirkstoffen wie Salbutamol (Bronchitis-Medikament) oder den Antibiotika Azithromycin und Amoxicillin sprechen nicht für eine Entspannung der Liefersituation.

Laut dem Verband Pro Generika hat sich die Situation sogar verschlechtert: „Das ALBVVG vermag das Problem der Lieferengpässe nicht zu lösen. Durch Flickschusterei kann sich die Lage nicht verbessern. Die Politik muß nachlegen und endlich beim Preisdumping bei Generika vernünftig gegensteuern. Ansonsten wird bereits die kommende Erkältungssaison offenbaren, daß die angekündigten Besserungen ausgeblieben sind.“ Auch der Apothekerverband ABDA ist skeptisch: „Leider hat das neue Lieferengpaßgesetz bisher kaum Wirkung gezeigt“, kritisierte ABDA-Vizepräsident Mathias Arnold. „Pro Jahr müssen die Apothekenteams mehrere Millionen Stunden Mehrarbeit leisten, um für die Patientinnen und Patienten trotz eines Engpasses noch Versorgungslösungen zu finden“.

Eine kleine Anfrage der Unionsfraktion sollte Licht ins Dunkel bringen, ob die versprochenen neuen Produktionsstätten, die Zuschläge an europäische Wirkstoffhersteller, reduzierter Preisdruck relevanter Hersteller und die Beseitigung von Engpaßursachen realisiert werden konnten. Gefragt wurde auch nach den Mehrausgaben der Krankenversicherungen. Die Antwort enttäuscht: Die Bundesregierung antwortete ausweichend und bezüglich der Mehrausgaben könne sie keine Auskunft geben. Ob die Diversifizierung der Lieferketten erreicht wurde, werde noch bis zum 31. Dezember 2025 evaluiert.

Fehlen inzwischen wirklich mehr als 1.600 Medikamente?

Somit hat sich die Situation weder bei Kinderarzneimitteln, Antibiotika oder Krebsmitteln verbessert. Die versprochenen neuen Generika-Werke in Europa fehlen weiterhin, und viele Bestellzuschläge an europäische Wirkstoffhersteller konnten nicht vergeben werden. „Die Maßnahmen reichen entweder nicht aus oder sind sogar kontraproduktiv, um Lieferengpässe bei Arzneimitteln zu vermeiden“, kritisierte der CDU-Abgeordnete Georg Kippels. Trotz der Vorwarnungen setze Lauterbach erneut die Versorgungssicherheit der Bevölkerung aufs Spiel – wie seine CDU-Vorgänger Hermann Gröhe und Jens Spahn wäre hinzuzufügen.

Die Bild-Zeitung titelte zu Recht: „Apotheker schlagen Alarm! Uns fehlen mehr als 1.600 Medikamente“. Zu Wort kamen drei Apotheker, die darüber berichteten, wie sie versuchen, die Situation zu meistern. Das ALBVVG wirke offensichtlich nicht, und der Apothekerverband Nordrhein (AVNR) fordert, Politik und Hersteller müßten umgehend reagieren, da beispielsweise viele Antibiotika bereits vor Beginn der kommenden Erkältungssaison nicht lieferbar seien.

Lauterbach ließ über einen Sprecher ausrichten, daß es in Deutschland „keine Versorgungsknappheit“ gebe, sondern lediglich „punktuelle Lieferengpässe in einem sehr komplexen Markt“. Patienten hätten aber „fast immer“ Zugriff auf wirkstoffgleiche Alternativen. Der Minister selbst betont bei der Gelegenheit gegenüber dem Boulevardblatt, daß das ALBVVG „überfällig“ gewesen sei. Es habe die Lieferengpässe im Vergleich zum Vorjahr „bereits halbiert“. Hersteller wie Apotheker dürften sich fragen, mit welchen Zahlen Lauterbach operiert, da das BMG laut der kleinen Anfrage selbst noch 15 Monate lang die Situation evaluiert.

Kleine Anfrage zum ALBVVG: dserver.bundestag.de/btd/20/125/2012581.pdf

 

Lieferengpässe für Humanarzneimittel in Deutschland

Seit April 2013 gibt das Bundesinstitut für Arzneimittel eine Liste der „Lieferengpässe für Humanarzneimittel in Deutschland“ heraus. Seit 2015 gab es neben temporären schon zwölf große Versorgungsmangelsituationen – vom Parasiten-Medikament Ivermectin bis zum schlichten Natriumperchlorat (NaClO4). Die Engpaßursachen sind vielfältig: Ein Wirk- oder Hilfsstoff wurde zu spät geliefert; es gab Produktionsprobleme oder eine Charge mußte zurückgerufen werden. Die Nachproduktion braucht Zeit, eine Krankheitswelle kann die Firmenkapazitäten überfordern. Neue gesetzliche Bestimmungen verzögern die Produktion über einen längeren Zeitraum. Die Impfstoffherstellung ist komplex und dauert 12 bis 26 Monate. Bei Kombinationsvakzinen sind Hunderte Kontrollen und Freigaben notwendig – ein negativer Test kann zu monatelangen Verzögerungen führen. Der Preis- und Rabattdruck steigt weltweit und führt in Hochlohnregionen zur Unwirtschaftlichkeit der Arzneimittelproduktion. Zwei Drittel der Wirkstoffproduktionsstätten stehen in China und Indien. (js)

 lieferengpass.bfarm.de/ords