In der Forschung zum deutschen Kolonialismus und seinen Nachwirkungen von 1919 bis 1939 dominiert die Auffassung, daß der auf Rückgabe der dem Deutschen Reich in Versailles „geraubten“ Überseeterritorien dringende „Kolonialrevisionismus“ nie eine breitere gesellschaftliche Resonanz gefunden habe. Seien seine Träger, allen voran die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG), doch großbürgerlich und sozial exklusiv geprägt gewesen. Dieses Fehlurteil möchte der Freiburger Historiker Leon Julius Biela mit einer Lokalstudie über die Marinestadt Wilhelmshaven korrigieren (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7/8-2024). Zwar sei das Stadtarchiv im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, aber die mikrologische Auswertung der Lokalpresse erlaube eine hinreichend präzise Erfassung der kulturellen, das Lebensumfeld der Wilhelmshavener alltäglich gestaltenden Bedeutung des Kolonialrevisionismus. Die Rekonstruktion der zahllosen, stets gut besuchten Feiern und Vorträge mit Kolonialbezug lasse keinen Zweifel daran zu, daß der Kolonialgedanke als Teil des Versprechens, die imperiale Vorkriegsordnung wiederherzustellen („Erlösung durch Revision“), über eine Massenbasis verfügte. Gerade in Wilhelmshaven war die DKG-Ortsgruppe kein elitärer Club von Seeoffizieren, sondern rekrutierte sich aus dem bürgerlichen Mittelstand. (dg) https://metropol-verlag.de