© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/24 / 11. Oktober 2024

Wie eine moderne Nationalitätenpolitik aussehen könnte
Einmal Nation mit alles bitte
Dirk Pelster

Das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland ist spätestens seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts Gegenstand kontroverser Diskussionen und stetiger Gesetzesnovellen. Dabei ist gerade die dem Staatsbürgerrecht zugrundeliegende Frage eigentlich eine denkbar einfache: Wer ist Deutscher und wer soll es gegebenfalls unter welchen Voraussetzungen werden können?

Bedingt durch den seit den sechziger Jahren anhaltenden millionenfachen Zuzug von Ausländern in die Bundesrepublik setzte spätestens zu Beginn der neunziger Jahre eine größere politische Debatte um die Frage ein, ob und inwieweit Deutschland ein Einwanderungsland sei. Insbesondere auf seiten des linken politischen Spektrums wurden die Forderungen nach Erleichterungen bei der Einbürgerung von Ausländern lauter. Mit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder im Jahre 1998 wurden dann schließlich entsprechende Reformen eingeleitet.

Das bislang geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, welches sich – trotz auch hier bestehender Einbürgerungsmöglichkeiten – überwiegend am Abstammungsprinzip und damit am Konzept einer ethnisch homogenen Volksnation orientierte, wurde zugunsten des noch aktuell geltenden Staatsangehörigkeitsgesetzes abgelöst. Der Kern der Reform, nämlich das bisherige Abstammungsprinzip weitestgehend durch das Geburtsortprinzip zu ersetzen, wurde realisiert.

Seitdem besitzen in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern grundsätzlich ein Recht auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, wohingegen andererseits die Nachkommen im Ausland lebender deutscher Eltern nicht mehr ohne weiteres einen solchen Anspruch geltend machen können. In den vergangenen zwei Dekaden wurden die Einbürgerungsvoraussetzungen mit Verweis auf eine verbesserte Integration dann weiter abgesenkt.

Dem regierungsamtlichen Narrativ, nach dem das neue Staatsangehörigkeitsrecht einen unbedingten Ausdruck gesellschaftlicher Modernität darstelle, der Migranten nun vorbehaltlos endlich volle Rechte bei der Mitgestaltung des Gemeinwesens eröffne, steht jedoch zugleich das merkwürdig konservativ anmutende Bedürfnis des Gesetzgebers gegenüber, den derzeit in der Bundesrepublik vorherrschenden politischen Zeitgeist dauerhaft zu zementieren. In Loyalitätserklärungen einzelner Behörden muß ein Einzubürgernder etwa versichern, daß er keine rassistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverachtenden Ziele verfolgt. Geht es nach Oppositionsführer Friedrich Merz, soll künftig gar das Bekenntnis zum Existenzrecht eines Drittstaates zwingende Voraussetzung für eine Naturalisation werden. Weiter festzustellen ist, daß bereits seit Jahrzehnten eine Nivellierung der speziellen Rechte deutscher Staatsbürger gegenüber hier lebenden Ausländern erfolgt ist. Die wenigen nennenswerten Rechte, welche Deutsche gegenüber Ausländern mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis derzeit überhaupt noch innehaben, sind das Wahlrecht, das Recht auf diplomatischen Schutz im Ausland sowie der Zugang zu bestimmten Bereichen des Staatsdienstes.

An Relevanz gewonnen hat das Staatsangehörigkeitsrecht aber auch in anderer Hinsicht. Längst schon kann eine ein allzu prononciert vorgetragener Tadel an der derzeitigen Rechtspraxis zum Gradmesser für die Verfassungstreue des sich so äußernden Kritikers werden. Noch im Mai 2024 hatte das Oberverwaltungsgericht NRW die Beobachtung der AfD durch den Inlandsgeheimdienst unter anderem mit der Begründung zugelassen, daß der begründete Verdacht bestünde, die Partei würde deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuerkennen wollen. Anknüpfungspunkt hierfür bildete ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum zweiten Verbotsverfahren gegen die NPD aus dem Jahr 2017.

Damals beschieden die Karlsruher Richter, daß diese Partei von einem ethnisch definierten Volksbegriff ausgehe, ein solcher mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nicht in Einklang zu bringen sei und die NPD somit verfassungswidrige Ziele verfolge. Um überhaupt zu einem solchen Ergebnis zu kommen, mußte das Verfassungsgericht implizit ein dem entgegenstehendes Verständnis des Begriffes „Volk“ entwickeln, wonach hierunter die Gesamtheit aller von bundesdeutschen Behörden als Staatsbürger registrierten Personen zu verstehen ist.

Da das Grundgesetz jedoch explizit nur von einem „Deutschen Volk“ spricht, tut sich damit gewisser Erklärungsnotstand auf. Zum einen bestand das deutsche Volk als Rechtssubjekt bereits in vorkonstitutioneller Zeit, zum anderen geht die Bundesrepublik in zahlreichen Rechtsquellen, insbesondere in den von ihr abgeschlossenen bilateralen Abkommen zum Schutz deutscher Minderheiten im Ausland, selbst ausdrücklich davon aus, daß keine absolute Kongruenz zwischen den Begriffen „Deutscher“ und „deutscher Staatsangehöriger“ besteht. Man kann demnach sehr wohl Deutscher sein, ohne dabei zugleich die deutsche Staatsbürgerschaft innezuhaben.

Schwieriger und ungleich heikler gestaltet sich indes die Beantwortung der Frage, ob auch jeder deutsche Staatsangehörige zwingend Deutscher ist. Würde man hierzu eine Straßenumfrage in Berlin-Neukölln durchführen, so dürfte man jedenfalls von einem überwiegend abschlägigen Ergebnis ausgehen. Ebenso zeugen in den letzten Jahren immer häufiger Verwendung findende Begrifflichkeiten wie „Biodeutscher“, „Paßdeutscher“, „Afrodeutscher“ oder ähnliches davon, daß es durchaus ethnokulturelle Unterschiede innerhalb der deutschen Staatsbürgerschaft gibt. Gerade bei großen Einwanderergruppen, wie etwa den in Deutschland lebenden Türken, hat sich dabei ein ganz eigenes Selbstverständnis ausgebildet. Deutsch wird als Verkehrssprache zwar akzeptiert, die eigenen Kinder erzieht man aber in der Sprache und im Glauben der Vorfahren. Anders als noch in den siebziger und achtziger Jahren bleibt man auch bei der Wahl des Ehepartners in der Regel innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Dennoch strebt man den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft an.

Der von Politik und Medien stets behauptete sozio-kulturelle Anpassungsprozeß von Einwanderern an die deutsche Mehrheitsgesellschaft ist im großen und ganzen nicht nur ausgeblieben, es lassen sich im Alltag vielmehr eher gegenläufige Tendenzen feststellen. In deutschen Ballungszentren haben größere Einwanderergemeinschaften bereits komplette Parallelstrukturen mit eigenen Kindergärten, Supermärkten, Arztpraxen etc. etabliert.

Während größere Migrantengruppen sich zunehmend eigene Lebenswelten schaffen, um ihre religiöse, sprachliche und kulturelle Identität in Deutschland bewahren zu können, läßt sich auf der anderen Seite feststellen, daß die autochthone deutsche Bevölkerung gehalten ist, ihre einstmals nur für sich selbst eingerichteten Institutionen mit Einwanderern zu teilen und auf diese dann noch in besonderer Weise Rücksicht zu nehmen. In Kindergärten und Schulen werden traditionelle Feste nicht mehr gefeiert, Speisepläne erfahren Anpassungen, und selbst der alltägliche Sprachgebrauch wird kultursensibel angepaßt.

Auch genießen ethnische Deutsche nicht den vollen Schutz des Strafrechts. Als etwa das Vorstandsmitglied des Türkischen Elternbundes Hamburg, Malik Karabulut, die Deutschen 2016 öffentlich als „Köterrasse“ bezeichnete, stellte die zuständige Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Volksverhetzung mit der Begründung ein, alle Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit stellten nunmal die Bevölkerungsmehrheit und seien damit kein beleidigungsfähiger Bevölkerungsbestandteil. Dabei war glasklar, daß Karabulut, der selbst deutscher Staatsbürger ist, mit seiner Äußerung keineswegs die Gesamtheit aller Staatsangehörigen meinte, sondern sich hiermit gezielt gegen ethnische Deutsche richtete.

Sieht man sich die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte an, so beobachten wir auf der einen Seite eine anhaltend hohe und gewollte Einwanderung, die zu einer zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft entlang ethnokultureller Bruchlinien führt. Auf der anderen Seite halten die politischen Entscheidungsträger hierzulande an einem Konzept der Staatsangehörigkeit – welches ursprünglich ein weitestgehend homogenes Staatsvolk zur Voraussetzung hatte – in dem Glauben fest, mit dem Akt einer raschen Einbürgerung würden damit zugleich alle durch die Zuwanderung erst verursachten Probleme sogleich wieder verschwinden.

Im internationalen Vergleich gibt es dabei durchaus Länder, deren Staatsangehörigkeitsgesetze sich nicht derart blind den Herausforderungen einer multiethnischen Gesellschaft verschließen. So wird etwa im Recht der Staaten Israel, Singapur, Malaysia, China sowie in der Russischen Föderation zwischen der Staatsbürgerschaft einerseits und der Nationalität beziehungsweise der ethnischen Herkunft andererseits unterschieden. Beide Merkmale werden in Geburtsurkunden und zum Teil auch in Ausweisdokumenten festgehalten. In einigen dieser Staaten werden bestimmte Ethnien, wie etwa jüdische Israelis oder malayische Bumiputera, zwar gesetzlich in unterschiedlicher Ausprägung privilegiert, jedoch erlaubt ein solches Konzept durchaus die Anerkennung der traditionellen Eigenheit bei gleichzeitiger Einräumung voller staatsbürgerschaftlicher Rechte. Vor allem eröffnet es den Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen im Bereich der Kultur und Bildung ein Recht auf eine eigenständige Entwicklung. 

Es drängt sich daher die Frage auf, ob die Etablierung einer zusätzlichen Kategorisierung der einzelnen Staatsbürger nach nationaler Herkunft nicht auch für Deutschland ein gangbarer Weg wäre, um die Unwägbarkeiten einer multikulturellen Gesellschaft besser handhabbar zu halten. Dazu ist festzuhalten, daß eine solche Differenzierung dem deutschen Recht schon heute keineswegs fremd ist. So erkennt Art. 25 Abs. 1 der Brandenburgischen Verfassung die Existenz eines „sorbischen Volkes“ innerhalb des Verbandes der deutschen Staatsangehörigen ausdrücklich an. In Art. 5 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung heißt es zudem: „Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an.“ Denklogisch ist es demnach durchaus möglich, ausschließlich deutscher Staatsbürger, aber zugleich beispielsweise Angehöriger des türkischen Volkes zu sein.

Im Rahmen der deutschen Staatsangehörigkeit könnte dann auch die eigene Volkszugehörigkeit der autochthonen Deutschen rechtlich anerkannt werden. Dies böte neue Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Zugleich müßten sie sich aber mit dem Umstand abfinden, daß sie in dem Land, dem sie als Titularnation seinen Namen verliehen haben, künftig nur mehr eines von vielen Völkern wären.



Dirk Pelster, Jahrgang 1972, studierte Jura, Politikwissenschaften und Pädagogik. Arbeitete bis 2011 als Rechtsanwalt und ist seither im Qualitätsmanangement sowie als Autor für die Preußische Allgemeine Zeitung und die JUNGE FREIHEIT tätig.