In den 124 Jahren, die seit Friedrich Nietzsches Tod vergangen sind, hat sich die eine Hälfte seiner Zertrümmerungsaktion durchgesetzt: die Vernichtung der „göttlichen Wahrheit“. Während die andere Hälfte, die Unterminierung der „Tatsachenwahrheit“, so stellt die promovierte Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Sabina Kienlechner (Berlin) fest, zunächst erfolglos blieb. Bis dann in den 1970er Jahren, ausgehend von der postmodernen „French Theory“ der Lyotard, Foucault, Derrida & Co., Stimmen lauter wurden, die auch „Tatsachenwahrheiten“ bezweifelten. Heute nehme deren Relativierung den Rang einer Lehrmeinung ein, die den Zeitgeist im Sinne der an Jesus von Nazareth gerichteten spöttischen Frage des Pontius Pilatus präge: „Was ist Wahrheit?“ Offenbar etwas, was von Meinung nicht zu unterscheiden sei und daher „so gestrig“ (Kulturtheoretiker Jan Söffner) wirke. Wohin jedoch ein Dasein ohne Faktenwahrheit führt, was der Mensch ist, der in eine Welt versetzt wird, in der es keine Realität, sondern nur Perspektiven, soziale Konstruktionen und Interpretationen „sogenannter“ Tatsachen gibt, lasse sich im literarischen Kosmos Franz Kafkas erfahren (Sinn und Form, 5/2024). Seine Texte lesen sich als Versuch, eine Welt herzustellen, in der es keine praktikable Wahrheit gibt. Die Figuren des Prager Erzählers landeten daher allesamt in der „vollendeten Orientierungslosigkeit“. Dieser postmoderne Relativismus besetze heute zwar „streckenweise“ das Bewußtsein westlicher Eliten, doch die „vielfältigen Wahrheitspraktiken“ der realitätstüchtigen Mehrheit würden immer noch nicht von Philosophen gelenkt. (wm)