© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/24 / 11. Oktober 2024

„Ich fürchte einen Krieg“
Interview: Kommt es zwischen Israel und dem Iran zur Explosion? Der Militärexperte Sir John McColl, ehemals Vize-Oberbefehlshaber der Nato und alliierter Oberkommandierender in Afghanistan, sieht die Lunte dafür bereits gezündet. Was kann sie noch löschen?
Moritz Schwarz

Herr General, Sie waren jüngst zu Besuch in Israel. Kommt es zum Krieg mit dem Iran? 

John McColl: Ich fürchte, ja. 

Was macht Sie so sicher?

McColl: Ich bin nicht sicher – ich fürchte es. Und zwar, weil beide Seiten nicht willens oder in der Lage zu sein scheinen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Premierminister Netanjahu hat da in den Gesprächen, die wir Anfang September mit ihm geführt haben, seinen Standpunkt deutlich gemacht.

Nämlich, was hat er gesagt?

McColl: Er zeigte sich unbedingt entschlossen, alles zu tun, was für die Sicherheit Israels nötig sei, inklusive militärischer Operationen. Lassen Sie mich hinzufügen, daß ich glaube, der Krieg mit dem Iran hat schon seit einiger Zeit begonnen, wenn auch in begrenztem Umfang. Denken Sie an den iranischen Luftangriff vergangene Woche und den israelischen Einmarsch in den Libanon, die Bombardierung des iranischen Konsulats in Damaskus und Teherans Reaktion mit einem ersten Luftangriff im April. Natürlich sind all das noch sehr begrenzte Kampfhandlungen, doch es scheint unausweichlich, daß sie sich ausweiten.

Wenn Ihr Gespräch schon Anfang September stattgefunden hat, heißt das, daß Israels Entschluß zuzuschlagen bereits vor dem iranischen Luftangriff feststand?

McColl: Nein, es heißt, daß man bereits entschlossen war, militärisch zurückzuschlagen, sollte ein Fall wie etwa dieser eintreten. 

Aber warum muß das zu einem richtigen Krieg führen?

McColl: Nochmal: Ich sagte nicht, es führt dazu, sondern, daß ich dies befürchte. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Erstens ist der Iran fest entschlossen, den Staat Israel zu zerstören. Und dies wird durch Stellvertreter umgesetzt, die Israel in einem Bogen umgeben: die Hamas in Gaza, die Hisbollah im Libanon, die schiitischen Huthi im Jemen, Milizen in Syrien und im Irak sowie direkt aus dem Iran. Netanjahu hat auf diese Bedrohung heftig reagiert und ist eindeutig entschlossen, das so fortzusetzen, ermutigt durch das rechte Element in seiner Regierung. Bezeichnend ist auch, daß die USA offenbar nicht mehr in dem Maße zur Zurückhaltung mahnen wie noch nach dem Luftangriff im April.

Was bedeutet „fürchten“ konkret, welchen Grad an Wahrscheinlichkeit drückt das aus?

McColl: Ich sehe eine signifikante Gefahr, kann sie aber nicht genau beziffern, weil sie von zu vielen Faktoren abhängt. Doch das Szenario ist das: So wie Netanjahu aufgetreten ist, rechne ich mit einer Reaktion, wie wir sie bisher in diesem Konflikt noch nicht gesehen haben. Das aber kann der Iran nicht unbeantwortet lassen. Und so fürchte ich, hat sich die Eskalationsspirale schon in Gang gesetzt. Nur weiß man natürlich nicht, ob nicht eine Seite es sich doch noch anders überlegt oder ob nicht künftige Vermittlungsversuche einen voll umfänglichen Krieg noch abwenden.

Wie sähe ein solcher Krieg aus? Schließlich haben Iran und Israel keine gemeinsame Grenze. Würden also Truppen zur See oder aus der Luft gelandet werden?

McColl: Nein, er würde wohl wie jetzt als Luftkrieg geführt, nur mit mehr oder vollem Einsatz. Israel hat eine starke Luftwaffe, die von den USA unterstützt wird. Dafür besitzt der Iran eines der größten Raketenarsenale im Mittleren Osten. 

Allerdings verfügt Israel über das vielleicht beste Luftverteidigungssystem der Welt. So haben die beiden Luftangriffe Irans kaum relevante Schäden verursacht. 

McColl: Ja, der Angriff im April wurde praktisch ganz abgefangen, der diese Woche fast ganz – einige Raketen kamen allerdings durch. Und dabei war der Angriff vergangene Woche „nur“ 180 Raketen stark – doch der Iran verfügt über Tausende, dazu kommen Marschflugkörper und Drohnen. Und selbst die israelische Luftabwehr wäre überfordert, sollte die Zahl anfliegender Projektile zu groß sein. Der Iran weiß das, und daher ist klar, daß die 180 Raketen kein ernsthafter militärischer Angriff waren, sondern „nur“ eine Drohgebärde. Sollte Iran Israel wirklich treffen wollen, würde er zu einem sogenannten „Sättigungsangriff“ greifen, der so bemessen ist, die Abwehr völlig zu überwältigen, wodurch ein erheblicher Teil der Raketen dann ihre Ziele erreicht. Hinzu kommt, daß der Krieg, trotz der Entfernung zwischen Iran und Israel, eine Landkomponente hat: in Gestalt eines Stellvertreterkriegs gegen die libanesische Hisbollah, dem Verbündeten des Iran.

Bereits 2006 hat Israel im Libanon gegen sie Krieg geführt, letztlich vergeblich. Kann es sie jetzt besiegen?

McColl: Israel kann sie militärisch schwächen, aber nicht vollständig besiegen. Die Hisbollah ist eine gut ausgerüstete und gut organisierte Streitmacht, weit fähiger und gefährlicher als die Hamas. Zudem hat sie sich im Südlibanon tief eingegraben und anders als in Gaza besteht die Landschaft dort nicht aus Sand, sondern aus Fels. Das bedeutet, daß ihre Vertreibung dort eine verdammt harte Nuß ist und die israelischen Streitkräfte viele Verluste kosten wird.

Wenn ein israelisch-iranischer Krieg nur per Luft und als in den Libanon ausgelagerter Stellvertreterkrieg geführt werden kann, was bringt er dann? Keiner kann so den anderen entscheidend schlagen, und am Ende wäre also alles wie zuvor, nur Zehntausende wären tot.

McColl: Da sprechen Sie den springenden Punkt an: Krieg muß mit einem politischen Zweck geführt werden – ohne ihn ist er nur eine sinnlose Spirale der Gewalt. Wobei ich hier eine Einschränkung mache: Kurzfristig könnte er Israel ein gewisses Maß an Sicherheit für begrenzte Zeit bringen. Nehmen Sie den Feldzug in Gaza, der nun dem Ende entgegengeht, weil die Hamas weitgehend, wenn auch nicht völlig, zerstört ist. Denn völlig zerstören läßt sie sich nicht und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem sich auch die Hisbollah nicht vernichten läßt: Weil sie im Grunde eine Idee, eine Philosophie ist. Beide werden also wiederkommen. Doch das dauert, und vorerst wird Israel vor ihnen sicher sein. Das gleiche gilt für den Iran, der sich nach einem solchen Krieg erst erholen müßte. Die Frage ist aber, ob das die erheblichen Opfer und Zerstörungen, die ein solcher Krieg anrichten würde, lohnt? Und richtig, früher oder später wäre man wieder am gleichen Punkt wie vor dem Krieg. 

Würde sich der Krieg zum Flächenbrand ausweiten, indem die Iran-Verbündeten Syrien, Irak oder Jemen in ihn eintreten, oder gar Rußland oder China? 

McColl: Das müssen Sie einen Geopolitik-Experten fragen. Aber natürlich, auch weil sich jeder Krieg ausweiten kann, muß er möglichst vermieden werden. 

Wie?

McColl: Indem es gelingt, die Spirale der Vergeltung zu durchbrechen. 

Und wie macht man das?

McColl: Indem die Politik wieder die Führung übernimmt, wozu auf beiden Seite Staatsmänner  gebraucht werden. Die jetzige Vergeltungslogik hat einen begrenzten Nutzen. Denn sie hat Nutzen im Rahmen des Prinzips der Abschreckung, kann aber auch kontraproduktiv sein, wenn es ihr nicht gelingt, Abschreckung zu gewährleisten. Denn dann verursacht Vergeltung stattdessen eine Eskalationsspirale, die in eben den Krieg führt, vor dem die Drohung mit ihr eigentlich abschrecken soll. Deshalb muß die Politik in beiden Ländern aufhören, sich von ihr treiben zu lassen, wieder die Kontrolle übernehmen und nach Auswegen suchen.

Gibt es Anzeichen dafür?

McColl: Im Moment nicht, denn beide Seiten scheinen unwillig, die Zwei-Staaten-Lösung anzunehmen, die aber die meisten Beobachter für das einzig realistische Langzeitziel halten. Doch je näher die Eskalationsspirale uns einem vollausgereiften Krieg bringt, desto größer ist auch die Chance, daß beide Seiten doch noch erkennen, daß er nicht in ihrem Interesse ist. Israel etwa führt bereits einen Mehrfrontenkrieg, denn es bekämpft derzeit, wie anfangs schon erwähnt, in einem Bogen rundum mehrere Feinde. Gut möglich, daß es trotz der jetzigen Entschlossenheit, zu den Waffen zu eilen, doch noch erkennt, daß ein Krieg mit dem Iran es militärisch überfordern könnte. 

Hätte verhindert werden können, die Eskalationsspirale überhaupt erst in Gang zu setzen?

McColl: Sicher, indem die Hamas am 7. Oktober Israel nicht überfallen und 1.200 Menschen, davon über 800 Zivilisten, inklusive Frauen und Kinder, ermordet sowie manche zuvor gefoltert und vergewaltigt hätte. Und indem die Hisbollah Israel nicht seit dem 8. Oktober 2023 vom Libanon aus mit Raketen beschießen würde. 

Der britische Hisbollah-Experte Nicholas Blanford meint, daß der Iran den Krieg mit Israel nicht will. Das zeige etwa, daß er die Hisbollah nach dem 7. Oktober nicht zu einem Großangriff ermutigt habe, sondern lediglich zu symbolischem Raketenbeschuß. Heißt das, wenn es zu einem richtigen Krieg kommt, dann weil Israel die Logik der nur symbolischen Gegenschläge durchbricht und übermäßig reagiert, etwa mit der Tötung des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah?

McColl: „Symbolischer Raketenbeschuß“? Seit dem 8. Oktober hat die Hisbollah knapp 9.000 Geschosse auf Nord-Israel abgefeuert, weshalb etwa 60.000 Israeli evakuiert werden mußten. Nein, die Angriffe lassen Israel gar keine andere Wahl, als sich nach der Hamas nun auch der Hisbollah zuzuwenden. 

Was ist mit Gaza? Daß Israel nach dem 7. Oktober dort im Rahmen der Selbstverteidigung einmarschiert ist, ist legitim. Doch stehen den 1.200 Opfern des Überfalls mittlerweile etwa 40.000 tote Palästinenser gegenüber. Ist das nicht völlig unverhältnismäßig?

McColl: Das ist in der Tat eine außerordentlich wichtige Frage! Doch muß man feststellen, daß es sich bei etwa 20.000 der Opfer um Hamas-Kämpfer handelt, die im Krieg, ebenso wie Israels Soldaten, ein legitimes Ziel sind. Zudem muß man verstehen, daß man nicht einfach die Opferzahlen einander gegenüberstellen kann. Israel führt den Krieg, weil es angegriffen wurde. Die Frage kann daher nicht lauten, ist die Zahl der zivilen Opfer zu hoch, sondern, ist sie so hoch, weil Israel den Krieg in einer Weise führt, die unnötig viele zivile Opfer verursacht? Vor meiner Reise nach Israel und Gaza war ich in dieser Hinsicht selbst skeptisch. Nun aber meine ich, daß, so schrecklich die Zahlen sind, ihre Höhe auf die außergewöhnliche Komplexität des Operationsgebiets zurückgeht.

Was meinen Sie?

McColl: Ich hatte die Herausforderung unterschätzt, vor die dieser Krieg Israels Armee stellt. Bei früheren Einsätzen wie etwa in Falludscha im Irak hatten wir es mit Selbstmordattentätern, dem Mißbrauch von Zivilisten als „menschlichen Schutzschilden“, der Nutzung ziviler Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäusern oder Moscheen als Versteck für Stellungen terroristischer Kräfte sowie umfangreichen Sprengfallen zu tun. Den Unterschied macht im Gazastreifen jedoch ein außergewöhnlicher Tunnelkomplex von 500 Kilometern Länge. Angesichts einer solchen Umgebung, die nicht mit einem herkömmlichen Schlachtfeld zu vergleichen ist, würde jede Armee legitimerweise Luft- oder Artillerieangriffe durchführen, bevor sie ihre Soldaten losschickt. Ich war allerdings beeindruckt von den Maßnahmen, die die Israeli ergreifen, um die Zivilisten davor zu warnen, die nämlich über die hinausgehen, was ich innerhalb der Nato, zum Beispiel in Afghanistan, erlebt habe. So informieren die Israeli etwa durch Abwurf von Flugblättern, per Telefon oder Textnachrichten die Menschen von einem Angriff und rufen sie zur Flucht auf. Oder sie schicken vor der Vernichtung eines Wohnblocks, in dem Hamas-Einrichtungen erkannt wurden, einen „Anklopfer“: eine kleine Granate wird an eine Hausecke geschossen, was den Bewohnern sagt: Alles raus jetzt, das Gebäude wird gleich dem Erdboden gleichgemacht!

Kritiker bemängeln, immer wieder seien diese Aktionen nur symbolischer Natur. Doch selbst wenn das nicht stimmt und wenn die enorme Zahl ziviler Opfer nach Kriegsrecht nicht zu beanstanden sein sollte: Man kann kaum verlangen, daß die Palästinenser sich damit zufriedengeben – denn sie erleben es als ein Massaker, bei dem ganze Familien ausgelöscht werden. Hinzu kommt die Zerstörung der Infrastruktur, was dazu führt, daß viele weitere Menschen an Verwundungen, Krankheiten oder mangelnder Versorgung sterben, vor allem Alte, Schwache und Kinder. 

McColl: Ohne jeden Zweifel ist all das eine gewaltige Tragödie! Aber wir können die israelische  Armee nicht verurteilen, so zu operieren, daß sie die Zahl ihrer Verluste senkt – denn das ist die Pflicht eines jeden Befehlshabers. Bedenken Sie, daß aus dem gleichen Grund Hiroshima und Nagasaki vernichtet wurden oder daß die alliierte Invasion in der Normandie eine enorme Zahl französischer Zivilisten das Leben gekostet hat, die bei militärischen Operationen fast immer ins Schußfeld geraten. Wobei es in Gaza sogar Fälle gab, in denen die Israeli ihre Soldaten Gefahren ausgesetzt haben, um Zerstörungen zu vermeiden. Dennoch ist das Ausmaß der Zerstörung Gazas schockierend, und der Kampf gegen die Hamas hat alles erreicht, worauf er abzielt. Daher ist nun ein Waffenstillstand nötig, und der Wiederaufbau des Gazastreifens muß so schnell wie möglich beginnen, um das Leid der fast zwei Millionen Vertriebenen zu lindern.

Hätte sich das alles nicht möglicherweise verhindern lassen, würde Israel nicht seit 1967 den Palästinensern Stück für Stück ihr Land rauben?  

McColl: Das ist keine Frage für einen Militärexperten, sondern für einen Politiker. Doch persönlich denke ich, daß die Siedlungspolitik einer Zwei-Staaten-Lösung im Weg steht – obwohl diese wohl die einzige Lösung ist. Und ich glaube, damit läuft sie Israels eigenen langfristigen Sicherheitsinteressen entgegen. 



Sir John McColl: war von 2007 bis 2011 zweiter Oberbefehlshaber der Nato. Zudem diente der Panzeroffizier unter anderem als Oberkommandierender der alliierten Truppen in Afghanistan (ISAF) und Vizekommandeur der multinationalen Koalitionsstreitkräfte im Irak. 2011 nahm der 1952 in Hampshire geborene Vier-Sterne-General seinen Abschied und war bis 2016 als hoher britischer Beamter tätig. Als Mitglied einer Delegation der Denkfabrik ELNET traf er jüngst Premier Benjamin Netanjahu.