© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/24 / 11. Oktober 2024

Kulturelle Unterschiede
Bahnt sich mit Cem Özdemirs Beitrag eine grüne Hinwendung zur Realität an?
Ulrich Clauẞ

Der Vorgang verdient Aufmerksamkeit und hat sie auch bekommen. Schließlich geschieht es nicht alle Tage, daß mit Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir ein führender Grüner so demonstrativ ein Tabu seines politischen Milieus bricht. Ungefragt berichtete er in einem Gastbeitrag für die Fankfurter Allgemeine Zeitung, daß seine Tochter „oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden“ – und daß das „häufig“ vorkomme. Und wie enttäuscht seine Tochter sei, daß nicht „offensiver thematisiert“ werde, „was dahintersteckt: die patriarchalen Strukturen und die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern“, wie Özdemir seine Tochter zitierte.

Mit solchen Botschaften aus der Realität hätte man vor nicht allzu langer Zeit noch ein Parteiausschlußverfahren riskiert, wie das Schicksal von Boris Palmer, dem ex-grünen Oberbürgermeister von Tübingen lehrt. Doch diesmal wurde eine Tür aufgestoßen. Zahlreiche Stimmen, auch mit Migrationshintergrund, knüpften an den Beitrag an und mahnten ebenfalls zum Nachdenken über eine wachsende Bedrohung in der Öffentlichkeit infolge unkontrollierter Masseneinwanderung aus islamisch geprägten Kulturräumen. Auch Angehörige von Opfern der grassierenden Migrantenkriminalität wagten sich an die Öffentlichkeit und beklagten, daß sie von offizieller Seite zu äußerster Zurückhaltung angehalten würden. Um nicht „der falschen Seite“ Argumente zu liefern.

Die grüne Nomenklatura reagierte merkwürdig gelassen. Das ist um so auffälliger, als Özdemirs Debattentext ja nicht nur auf versäumte Abschiebungen von „kriminellen Ausländern“ oder die hohe Zahl von nicht Schutzbedürftigen abhob. Nein, im Text des 58jährigen steckt ein grundsätzlicher Vorbehalt, wie er bisher nur von AfD und BSW vorgetragen wird. Mit dem Hinweis auf „patriarchale Strukturen und die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern“ zielt der baden-württembergische Ministerpräsident in spe auf das Grundproblem der Masseneinwanderung aus dem islamischen Kulturraum – ob „legal“ oder mißbräuchlich: auf die kulturelle Differenz.

Es ist diese selbst für den Grünen, in ihren alltäglich erlebten Ausprägungen inakzeptable kulturelle Unterschiedlichkeit, die in Gestalt der Masseneinwanderung aus islamischen Ländern die ganz grundsätzliche Frage nach der Aufnahmefähigkeit europäischer Gesellschaften stellt. Eine Schere, die auch trotz noch so vieler Integrationsmilliarden zum Generationenproblem eskaliert. Zumal schon heute fünf Prozent der gesamten syrischen und ein Prozent der afghanischen Weltbevölkerung in Deutschland leben.

Das grüne Parteiestablishment muß diese Lunte der kulturellen Differenz in Özdemirs Text wohl glimmen gesehen haben. Sie wurde aber bemerkenswerterweise nicht ausgetreten, vielleicht in der Hoffnung, daß sie von selbst erlösche. Im Gegensatz zum „Rassismus“-Geschrei der üblichen Empörten in den sozialen Netzwerken reagierte die grüne Führung in Bund und Ländern mehr oder weniger achselzuckend auf die migrationspolitische Intervention. Oder sollte man daraus gar auf eine migrationspolitische Tauwetter-Periode im grünen Biotop schließen? Bahnt sich mit dem vielbeschworenen „Neustart“, nach dem Rücktritt des gesamten Parteivorstandes, nach der Katharsis von vier vergeigten Wahlen und nach der Auslagerung des notorischen Realo-Fundi-Streits in die Jugendorganisation eine Besinnung auf realistische Politikziele, eine Abkehr von der lange gepflegten Multikulti- und Weltrettungsdoktrin an? Ein Wetterleuchten im Vorfeld des Bundesparteitags der Grünen Mitte November in Wiesbaden?

Es wäre eine epochale Zäsur, und man muß weit zurückdenken, um ein Beispiel zu finden, bei dem eine Partei in Deutschland einen solchen Spurwechsel von der verschworenen Gemeinschaft der Heilsgläubigen zur modernen politischen Kraft vollzogen hat. Zuletzt gelang den Sozialdemokraten 1959 mit dem legendären Godesberger Programm eine Rückkehr in die politische Wirklichkeit. Sie folgten damals den Leitsätzen ihres Vorsitzenden Erich Ollenhauer, der die große Programmreform in zwei Kernpunkten zusammenfaßte. Zum einen sollte das neue SPD-Programm „keinen wissenschaftlichen Anspruch mehr erheben“, sondern als „politisches Programm einer politischen Partei“ verstanden werden. Zum anderen erteilte Ollenhauer jeder „geschichtsphilosophischen Gewißheit“ eine Absage.

Die Parallelen zur Situation der Grünen liegen auf der Hand: Was für die SPD damals die Absage an den „wissenschaftlichen Sozialismus“ war, müßte für die Ökopartei heute die Revision ihrer „alternativlos wissenschaftlichen“ Klimakommandowirtschaft sein. Ebenso dringend wäre eine Durchlüftung ihrer migrations- und bildungs-„wissenschaftlichen“ Programmgrundlagen. Auch müßten die Grünen all ihren „geschichtsphilosophischen Gewißheiten“ von einer multikulturell entgrenzten Zukunft der Menschheit Lebewohl sagen. Das würde ganz nebenbei auch helfen, den Wähler besser zu verstehen und wahrzunehmen, als was und wie er eigentlich leben will. Doch von dem einen ist bei den Grünen so wenig zu sehen wie von dem anderen.

Der großen sozialdemokratischen Programmrevision gingen damals – wie heute bei den Grünen – mehrfach enttäuschende Wahlergebnisse und der drohende Absturz ins politische Abseits voraus. Zuletzt sah sich die SPD damals sogar einer absoluten Mehrheit der Adenauer-Union gegenüber.

Aber – und das zeigt das Verkennen des Revisionsbedarfs bei den Grünen – es sieht ganz so aus, als müßten sie sich erst noch ganz anderen Mehrheiten gegenübersehen, bis sie ihre Heilsdoktrin und Glaubenssätze fahren lassen. Und daß bis dahin noch viele Özdemirs kommen und gehen werden. Und ausgerechnet Wirtschaftsminister Robert Habeck, der für so vieles steht, was die Grünen im Lande gerade an die Wand fahren, soll es nun richten. Mit diesem Anti-Ollenhauer als Frontmann wird Wiesbaden 2024 mit Sicherheit kein Bad Godesberg der Grünen. Und das ist nicht nur eine Frage der kulturellen Differenz.