Die markanteste Farbe meiner Kindheit war grau. Die Fassaden waren grau. Die Blätter waren grau. Staub und Dreck waren überall. Die Erzgebirgskämme waren rostbraun, weil die Schwefeldioxidemissionen den sauren Regen brachten und Sachsen, Böhmen und dem Erzgebirge schwer zusetzten. Wie fast überall in Europa. Die Planwirtschaft der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR hatte nicht die finanzielle Kraft, um in Filteranlagen zu investieren. Es blieb so bis zum Mauerfall.
Als ich erstmals Bonn besuchte, war ich überrascht von der Reinheit der Blätter an den Büschen. Ich fragte mich, ob die nachts gereinigt würden. Sie waren so blank und glänzend. Ich denke an meine Zeit in Leipzig. Die Pleiße war ein toter Fluß, Schaumkronen flogen bei Wind über die Brücke, weil die Textilindustrie flußaufwärts ihre Chemikalien ungefiltert eintrug. Die Dämpfe des Flusses genügten, um einem Kopfschmerzen zu machen. Die DDR-Industrie lief zu Lasten der Umwelt, weil die Maschinenparks Jahrzehnte alt waren und keine Investitionen stattfanden.
Der Himmel über Sachsen und Thüringen wurde wieder blau
Leipzig grenzt ans mitteldeutsche Chemiedreieck Leuna-Buna-Bitterfeld. Kam der Wind aus Westen mußte man wegen der Emissionen die Fensterbretter täglich auswischen. Im Südosten lagen seit 1937 die riesigen Werke zur Braunkohleveredlung in Espenhain, deren versuchte Umstellung auf Erdöl nur eine Episode der siebziger Jahre war. Natürlich atmeten wir das alles auch ein. Ein Viertel der Kinder in meiner Klasse waren an chronischer Bronchitis oder Neurodermitis erkrankt.
Ein solcher Bericht könnte vielleicht auch aus Westdeutschland stammen, forderte doch SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt schon im Bundestagswahlkampf 1961: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden.“ In den siebziger Jahren gab es dort spürbare Verbesserungen – in der DDR nicht. Anschaulich zeigt das der vor zehn Jahren veröffentliche Dokumentarfilm „Mitgift“ von Roland Blum, der die verheerenden Zustände von 1990 und die Entwicklung bis 2013 zeigt. Die Wiedervereinigung war schon aus Umweltsicht ein Segen für unser aller Gesundheit.
Die Schattenseite war die Deindustrialisierung. Vor allem sie führte dazu, daß sich die Qualität von Luft, Wasser und die Böden binnen weniger Jahre enorm verbesserte. Nun gab es ganz andere existentielle Probleme: zweistellige Arbeitslosenquoten, geschickt getarnt hinter „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“, die die Statistiken, aber nicht die Wirklichkeit änderten. Junge Menschen wanderten in Scharen ab, andere pendelten in den Westen. Es wurde oft auf Kinder verzichtet – eine Entwicklung, die bis heute eine tiefe Schneise in die Bevölkerungspyramide geschlagen hat. Umweltschutz war schnell kein Thema mehr. Dementsprechend flogen die Grünen bald wieder aus den östlichen Landtagen.
Von der Deindustrialisierung im Osten profitierte aber die Bundesrepublik als Ganzes: Die Verpflichtungen zur CO₂-Emissionssenkung aus dem Kyoto-Protokoll von 1997 beziehen sich auf das Referenzjahr 1990, als die DDR-Industrie noch lief. Der westdeutschen Wirtschaft kam das zugute, weil die Umstellungsprozesse verlangsamt werden konnten. Neu gebaute Industrieanlagen entsprachen natürlich den neuen Umweltstandards. Alle wesentlichen Treibhausgase haben sich 20 Jahre nach dem Mauerfall auf etwa 50 Prozent weniger oder gar darunter befunden.
Auch der Uranbergbau der 1947 gegründeten Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut endete mit der DDR. Die war hinter der Sowjetunion, den USA und Kanada der viertgrößte Uran-Produzent der Welt – und das hatte nichts mit dem 1966 angefahrenen AKW Rheinsberg und dem AKW Greifswald zu tun, das acht Jahre später ans Netz ging. Das „Wismut-Uran“ diente der nuklearen Aufrüstung. Die MDR-Dokumentation „Hölle, Heimat, Kumpeltod“ zeigt die Folgen in Westsachsen und Ostthüringen: Radioaktive Halden, Schlammteiche, Tagebau und umweltbelastende Uranverarbeitung. Die Radon-Ausgasung machte nicht nur Bergarbeiter krank. All das wurde saniert und zu „blühenden Landschaften“ gemacht. Bad Schlema ist seit 2023 staatlich anerkannter Kurort.
Auch die anderen Industriebrachen und die verlassenen Kasernen und Übungsplätze der Sowjetarmee bargen dreckige Geheimnisse und brachten viel Aufwand für die Sanierung mit sich. Braunkohlentagebaue wurden geflutet, und es entstanden neue Seenlandschaften, allerdings mit sehr unterschiedlicher Wasserqualität. Viele haben einen hohen Grad an Versäuerung. Das 1992 geschlossene Verwaltungsabkommen zwischen den Ostländern und der Bundesregierung hatte die Finanzierung dieser Mammutaufgabe geregelt, trotzdem bleibt Sachsen ab 2027 bei einem höheren Eigenanteil zurück. Nachverhandlungen hat der Bund abgelehnt: Klima, Rüstung oder Sozialleistungen für die Massenmigration sind wichtiger als Umweltschutz.
Auch in der Wirtschaft gibt es Kippunkte, die uns alle bedrohen
Die wirtschaftlichen und sozialen Begleitumstände der Deindustrialisierung wirken bis heute nach. Die Aufnahme in die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik, die Bundeskanzler Helmut Kohl durchsetzte, hat die Betroffenen vor dem Absturz bewahrt, aber die Sinnsuche im Leben wurde brutal unterbrochen – mitunter für viele Jahre. Die ersten zehn Jahre nach dem Ende der DDR waren alle zwischen 20 und 60 Jahren damit beschäftigt, sich anzupassen. Die Kinder waren oft mehr sich selbst überlassen, als uns heute recht sein kann. Sie haben die Härten des neuen Lebens nach dem Mauerfall in den Familien hautnah mitbekommen. Das hat sie geprägt: Es wird nicht rumgelabert, sondern angepackt.
So dürfte wohl auch die Mentalität im Westen in den fünfziger und sechziger Jahren gewesen sein. Der Osten hat aber nicht einfach nur den historischen Vorsprung materiell und technologisch nachgeholt. Er hat auch verglichen. Und er warnt heute lautstark vor den unabsehbaren Folgen einer ideologisch verursachten Deindustrialisierung, die die Ampel seit 2021 forciert. Man kann solch eine Welle nicht so einfach aufhalten. Auch da gibt es Kippunkte, die uns nun alle in Deutschland bedrohen. Die Verteilungskämpfe können hart werden – die VW-Krise und die Abwanderung der Chemieindustrie sind nur ein kleiner Vorgeschmack.
Wenn kein Vertrauen in das Gemeinwesen mehr besteht, weil viele der neu Zugewanderten sich nicht als Teil des Gemeinwesens begreifen wollen oder weil die Politik die Rahmenbedingungen nicht so gestalten kann, wie es nötig wäre, um für Ordnung und Sicherheit und einen prosperierenden Mittelstand zu sorgen und dem Handwerk Raum zu lassen, dann geht der Zusammenhalt verloren. Wenn ich heute Ältere frage, was für sie nach dem Mauerfall die tragenden Säulen waren, um da durchzukommen, dann sagen fast alle und in dieser Reihenfolge: Familie, Freunde, Bildung.
Antje Hermenau ist Verwaltungswirtin und Unternehmensberaterin in Dresden. Sie gründete die sächsischen Grünen mit und war von 1990 bis 2014 Landtags- bzw. Bundestagsabgeordnete.