High Noon im SED-Politbüro: „Erich, es geht nicht mehr. Du mußt gehen“, sagt dort DDR-Ministerpräsident Willi Stoph am 17. Oktober 1989 zu Partei-Generalsekretär Honecker. In der DDR brodelt es. Seit Wochen anschwellende Proteste und Demonstrationen sowie massenhafte Flucht über die geöffnete Grenze in Ungarn und die Prager Botschaft rütteln an der Herrschaft der SED.
Stoph hat im höchsten Parteigremium den Antrag auf Entbindung Honeckers von allen Funktionen gestellt. Alle Politbüromitglieder sprechen sich gegen den 77jährigen Altkommunisten aus, der 18 Jahre zuvor selbst seinen Vorgänger Walter Ulbricht gestürzt hat.
Egon Krenz, zweiter Mann hinter Honecker, gilt als Haupt der Verschwörer und bringt fast alle Politbüromitglieder hinter sich. Dem störrischen Honecker, der von Reformen nach dem Muster des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow nichts wissen will und an kompromißlosen Polizeieinsätzen gegen die Demonstranten festhält, bleibt nichts anderes übrig, als im Politbüro selbst seinem eigenen Rücktritt zuzustimmen.
Honeckers Abdankung wird mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand verbrämt. Wunschgemäß wird Krenz Nachfolger. Was hat zum Umdenken der SED-Oberen geführt? Wendepunkt waren die Ereignisse beim DDR-Geburtstag in Ost-Berlin am 7. Oktober. Dort verneinte Honecker in Gegenwart des erstaunten Gorbatschow trotz Wirtschaftskrise und Demonstrationen jede Reformnotwendigkeit und lobte die DDR in höchsten Tönen. Nach Gorbatschows Abreise gab es brutale Polizeieinsätze. Zwei Tage später schockten 70.000 Demonstranten in Leipzig die SED-Spitze.
Mit Honeckers Rücktritt wollte die DDR-Führung vor 35 Jahren Druck aus dem Kessel nehmen. Im Herbst 1989 beschleunigte sich die Geschichte und räumte in kurzer Zeit jahrzehntelang Unverrückbares hinweg. Die Deutschen, die als revolutionsunwilliges oder -unfähiges Volk galten, stürzten mit viel Mut im östlichen Teilstaat die SED-Diktatur. Diese schien mittels repressivem Staatsapparat und dem „Bruderstaat“ Sowjetunion mit noch über 350.000 Soldaten in der DDR unbezwingbar.
Die gefälschten Kommunalwahlen wirkten als Protestbeschleuniger
Viele Faktoren führten zum Kollaps der DDR. Die Entspannungspolitik und der Helsinki-Prozeß hatten schon länger Oppositionsbestrebungen im Ostblock befördert. Beschleunigt wurde alles ab 1985 durch Gorbatschows Reformpolitik. Die altersstarren Genossen um Honecker widersetzten und isolierten sich. Die sozialen Versprechen konnte das SED-System Honeckers wegen der wirtschaftlichen Malaise nicht einhalten. Das führte im Volk zu weiterer Desillusionierung, Wut und Abschottung. Die Opposition, deren harter Kern aus 3.000 Bürgerrechtlern bestand, wuchs an. Ihre Gruppen wirkten unter dem Schutz der evangelischen Kirche, in Ost-Berlin, Leipzig oder anderswo, aber lange ohne viel Resonanz. Ihr Einfluß stieg ab 1988/1989. Ein Protestbeschleuniger waren die gefälschten Kommunalwahlen in der DDR vom 7. Mai 1989.
Es war eine friedliche Revolution der Hunderttausenden, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen. Diese Gewaltlosigkeit galt nicht für den hochgerüsteten Staatsapparat. Für den blieb der Aufstand vom 17. Juni 1953, als die sozialistische Diktatur nur durch Sowjet-Panzer gerettet werden konnte, zeitlebens ein Trauma. „Geplante Proteste sollte die Geheimpolizei der DDR schon im Vorfeld erkennen und verhindern“, beschreibt Hubertus Knabe, lange Gedenkstättenleiter in Berlin-Hohenschönhausen, den Kampfauftrag der Stasi. Als dann im Sommer 1989 Tausende DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik flüchteten, fragte Stasi-Minister Erich Mielke seinen Geraer Bezirkschef: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“ Der beruhigte: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch noch da.“ Proteste werden anfangs unterdrückt. So bei den Montagsdemos ab September 1989 nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, als Polizei und Stasi die Demonstranten einkesseln und viele „zuführen“. Als sich am 25. September 7.000 dem Demonstrationszug anschließen, scheitert die Einkesselungstaktik.
Inzwischen gründet die Opposition erste Vereinigungen, am 10. September 1989 das „Neue Forum“, dann „Demokratie Jetzt“, „Demokratischer Aufbruch“ und viele andere. Auch eine Sozialdemokratische Partei. Fast alle wollen eine reformierte DDR, von Wiedervereinigung ist nicht die Rede. Namen wie Bärbel Bohley, Rolf Henrich, Jens Reich, Ehrhart Neubert, Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe oder Wolfgang Ullmann machen die Runde.
Neben den pompösen Vierzig-Jahr-Feiern in Ost-Berlin demonstrieren am 7. Oktober 1989 in Plauen 15.000 Menschen für Reise- und Meinungsfreiheit. Auch hier gibt es brutale Einsätze, aber die Polizei kann die Demo nicht auflösen. In Dresden kommt es am Hauptbahnhof Anfang Oktober zu Straßenschlachten, als die Züge der Prager Botschaftsflüchtlinge dort durchfahren.
Ein Höhepunkt der Revolution ist der 9. Oktober 1989 in Leipzig. Die Sicherheitskräfte planen ein hartes Vorgehen. Auf dem Karl-Marx-Platz, heute Augustusplatz, sehen sich 70.000 Bürger Vopo und Stasi gegenüber und rufen „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“. Auf dem Stadtring wird demonstriert. Volkspolizei und Stasi machen angesichts der Masse keinen Versuch, die Demo aufzulösen. Ein großer Sieg für die Opposition.
Die Teilnehmerzahlen schwellen nun massenhaft an. Eine Woche später demonstrieren 120.000 in Leipzig mit der Parole „Die Mauer muß weg“, in Dresden und Magdeburg je 10.000, in Halle 20.000. Am 23. Oktober gehen in Leipzig 300.000 Menschen auf die Straße, die größte Protestkundgebung der DDR-Geschichte. In Schwerin demonstrieren 40.000 Bürger.
Unter dem neuen Partei- und Staatschef Krenz schreitet die Erosion der SED-Macht voran. Der Leiter der Zentralen Wahlkommission, der immer die 99,9-Prozent-Ergebnisse für die Einheitsliste der Nationalen Front verkündete und die blutige Niederschlagung der Studentenproteste in Peking im Juni 1989 begrüßte, war für das Gros der DDR-Bürger von Anfang an völlig unglaubwürdig für die von ihm propagierte „Wende“. Am 3. Dezember tritt er als letzter SED-Generalsekretär nach Ulbricht und Honecker zurück.
Stabilisierung der SED-Herrschaft gelang nach Mauerfall nicht mehr
Die angestrebte Stabilisierung der SED-Herrschaft gibt es nicht mehr nach dem Mauerfall am 9. November und den fortdauernden Protesten wie massenweisen Ausreisen von DDR-Bürgern in den Westen. Die Übergangsregierung von Hans Modrow (SED/PDS) führt die DDR ab Mitte November nur noch bis zur ersten demokratischen Volkskammerwahl im März 1990. Nach der Maueröffnung schwellen die Rufe nach Wiedervereinigung an. Die widerstrebenden Bürgerrechtler mit ihren Träumen einer „anderen DDR“ – bezahlt von der Bundesrepublik, was Kanzler Helmut Kohl (CDU) ablehnt – geraten in die Defensive. Längst stellen Normalbürger bei den Demonstrationen die Hauptmasse. Sie sind für die schnelle Einheit.
Die kommt 1990, ein geschichtliches Wunder. Heute sind die neuen Länder und ihre Städte schick anzusehen. Zugleich zeigt sich im Osten besonders die innere Spaltung in Deutschland. Viele sehen dort besonders kritisch auf den Zustrom von Menschen fremder Kulturen und verordnete Einheitsmeinungen. Sie können nicht verstehen, daß das Votum von einem Drittel der Wähler in drei Ostländern selbstherrlich ignoriert wird. Auch wenn die Bundesrepublik keine DDR ist: Die Ereignisse vor 35 Jahren zeigen, daß Ignoranz und Gesprächsverweigerung einmal bedrohlich für ein System werden können.
Foto: Demonstration auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig im Oktober 1989: Die Gewaltlosigkeit der Hunderttausenden galt nicht für den hochgerüsteten Staatsapparat und sein Spitzel-System