© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Härte und eiserner Wille
Serie Bewegende Köpfe, Teil 19: Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin veränderte die Welt wie kaum ein weiterer
Rainer F. Schmidt

Dieses Zitat Wladimir Iljitsch Lenins ist ungewöhnlich: „Ich kenne nichts Schöneres als die Appassionata und könnte sie jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik. Aber allzuoft kann ich diese Musik doch nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven. Man möchte lieber Dummheiten reden und Menschen den Kopf streicheln, die in einer schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheiten schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln, die Hand würde einem sonst abgebissen. Schlagen muß man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen, obwohl es doch unser Ziel ist, jede Vergewaltigung des Menschen abzuschaffen.“ 

Dieser Konflikt zwischen Veranlagung und Verpflichtung, zwischen Rührseligkeit und Brutalität wurde zur Seelenqual seines Daseins. Schwärmerei und Gefühlsduselei mußte er abtöten, weil sie ihn ablenkten von seiner her-kulischen Aufgabe. Sein widerstrebendes Inneres mußte auf ein einziges Ziel ausgerichtet sein: auf die totale Umwälzung der bestehenden Verhältnisse. Dies ließ sich nicht „mit den Methoden eines Mädchenpensionats“ bewerkstelligen. 

Die proletarische Revolution, die ihm vorschwebte, die die werktätigen Klassen in das Reich der Freiheit führen sollte, war seine Mission. Er nahm sie so ernst, wie kein anderer vor ihm. Deshalb löste die f-Moll Sonate für Klavier von Beethoven, die Bismarck nicht oft genug hören konnte, weil sie ihn hart machte, bei ihm die gegenteilige Wirkung aus. Er konnte ihre bestrickenden Klänge nicht ertragen, weil sie die guten, die warmen, die emotionalen Züge seines Charakters zum Vorschein brachten. Humanität und Nächstenliebe aber konnte er für das, was er vorhatte, nicht gebrauchen. 

Denn das, was er wollte, war unerhört, geradezu einmalig seit Menschengedenken. Sein Sinnen und Trachten richtete sich nicht auf ein einziges Land. Er war viel ehrgeiziger und kühner. Er wollte alle Gesellschaften weltweit vom Kopf auf die Füße stellen, die Menschen aus der Hölle ihrer Knechtschaft erlösen und eine goldene Epoche einläuten. Jegliche Sentimentalität und Rücksichtnahme waren dabei fehl am Platz. Köpfe mußten rollen für sein großes Ziel. Denn seine Revolution sollte total sein. Kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, auch wenn dies Hekatomben an Menschenleben forderte.

Begonnen hatte all dies ebenso vielversprechend wie unspektakulär am 22. April 1870 in Simbirsk, einer ehemaligen Festungsstadt am Mittellauf der Wolga, knapp 900 Kilometer südöstlich von Moskau. Dort wuchs er als der behütete zweite Sohn eines in den Adelsstand erhobenen Mathematik- und Physiklehrers und einer deutschstämmigen Mutter auf. Bis zum Alter von 17 brillierte er auf dem Gymnasium und tat sich als Musterschüler hervor. Drei Tage nach dem Beginn der Abiturprüfung kam die Wende, die ihn und die Welt radikal verändern sollte: der Tod des geliebten Vaters, der an einer Hirnblutung starb, und die Hinrichtung des älteren Bruders Alexander als Aufrührer und Attentäter am 20. Mai 1887. Jetzt zählte auch er zu den Ausgestoßenen. 

Er machte er sich daran, das Werk seines gehenkten Bruders zu vollenden. Schon nach dem ersten Semester Jura wurde er als Rebell von der Universität relegiert. Trotzdem legte er als Autodidakt vier Jahre später die juristische Prüfung als Bester in allen Fächern ab.

„Wenn man sich nicht anpassen kann, wenn man nicht bereit ist, mit dem Bauch durch den Dreck zu kriechen, dann ist man kein Revolutionär, sondern ein Schwätzer.“ Dieses Bekenntnis wurde zum Leitspruch seines Lebens. Es war gekennzeichnet durch grausame Härte, achselzuckende Entbehrung und rücksichtslose Konsequenz. Durch Gefängnis, Verbannung und lange Jahre des Exils in Berlin, München, Genf und Zürich; durch den Bruch mit politischen Freunden; durch Liebschaften, die gebrochene Herzen zurückließen; und durch Mord, Blut-orgien und beispiellose Erbarmungslosigkeit gegen alles und jeden, der ihm im Weg stand. Die Menschen, so schrieb er, „sollen sich noch jahrzehntelang daran erinnern“. 

„In welchen Sumpf sind wir geraten“, bilanzierte er am Ende

Flankiert wurde dieser Weg des Schreckens aber auch von Pragmatismus. So, als er, mitten im Krieg, mit dem kaiserlichen Deutschland paktierte, dem Landesfeind, Klassengegner und ideologischen Feind. Zuerst besorgte er dessen Geschäft durch den bolschewistischen Umsturz in Rußland. Und dann nahm er, ohne mit der Wimper zu zucken, einfach hin, daß sein Land im Diktatfrieden von Brest-Litowsk um Tausende Quadratkilometer amputiert wurde.

Was von ihm bleibt, ist die Bilanz eines Revolutionärs, der die Welt mit der Durchschlagskraft seines eisernen Willens wie kein zweiter veränderte. Aber trotz des gewaltigen, ja unvorstellbaren Erfolgs wurde er zum Virtuosen der Vergeblichkeit. Denn seine Geschichte war nicht die einer Tragödie des Schei-terns, wie bei Robespierre, bei Cäsar oder bei Napoleon. Seine Geschichte war die Tragödie des Gelingens. Auf der einen Seite: die Selbstaufopferung und Selbstverleugnung, die asketische Kasteiung der eigenen Person, die nie versiegende Energie, die weder von Augenproblemen, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Wundrose, Durchblutungsstörungen noch von Zwangsvorstellungen gebrochen werden konnte. Sie war die Voraussetzung, Großes zu bewirken. Auf der anderen Seite aber: Verzweiflung über das Versagen, und die späte, aber bittere Einsicht, daß sich die menschliche Natur, trotz aller totalitären Dressur, nicht uniformieren ließ, und daß er, der das Böse hatte aus der Welt schaffen wollen, zu dessen Wegbereiter geworden war. Sein Triumph hatte den Sieg, den er errungen hatte, um seinen Sinn gebracht. 

„In welchen Sumpf sind wir geraten“, so stöhnte er noch auf dem Sterbebett auf. Es war die späte Erkenntnis, daß das Ziel, eine bessere Welt zu schaffen, in sein Gegenteil umgeschlagen war. Seine Schöpfung, die den Menschen Hoffnung, Selbstbestimmung und Freiheit hatte bringen sollen, war zum totalitären Leviathan geworden, der Schrecken, Gewalt und Tod verbreitete und die Menschen in eine neue Hölle der Entrechtung führte. Daran konnte auch die Apotheose nichts ändern, die ihn nach seinem Tode zum unfehlbaren Giganten stilisierte.



Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.