Noch ist der 4. Oktober kein amtlicher Gedenktag. Er könnte aber einer werden, denn an diesem Tag im Jahr 2000 hatte Gerhard Schröder, damals Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, den „Aufstand der Anständigen“ ausgerufen. Anlaß war ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge zweiTage zuvor, den die Politik und viele Medien kurzerhand den üblichen Verdächtigen, den Rechten also, angelastet hatten. Auch nachdem zwei Ausländer, der eine aus Marokko, der andere aus Jordanien gebürtig, gefaßt worden waren und die Tat gestanden hatten, blieb Schröder dabei. Die beiden Muslime wollten Rache nehmen für den Tod eines Kameraden, der kurz zuvor von israelischen Soldaten im Gazastreifen erschossen worden war. Dem Kanzler paßte das nicht ins Programm, und deshalb rief er, unterstützt von Medien, Kirchen und Verbänden, dazu auf, im „Kampf gegen Rechts“ nicht nachzulassen.
Tatsächlich ging der Kampf erst richtig los, und zwar mit einer Großdemontration des Establishments am 9. November. In Berlin, gleich neben dem Brandenburger Tor, wurde ein Podium errichtet, auf dem die Anständigen, vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau an abwärts, Stellung bezogen, um den Unanständigen den Krieg zu erklären. Mit von der Partie waren Kanzler Schröder, mehrere Minister, Parteivorsitzende, Gewerkschaftsführer, Chefredakteure und Zentralräte, Bischöfe, Kirchenpräsidenten und andere Vertreter der Zivilgesellschaft. Die Hieb- und Stichwörter der antifaschistischen Geschichtsdogmatik – Einzigartigkeit, Unvergleichbarkeit, Antirevisionismus und so weiter – wurden noch einmal heruntergerasselt, um sie den Bürgern einzuhämmern.
Christian Semler, einer der intelligenteren Linken, die es damals noch gab, hatte bereits einige Jahre zuvor, im Juni 1994 im Kursbuch („Der Weg ins Freie“), das Programm antizipiert, als er feststellte: „Je ungeheuerlicher, ja einzigartiger die Untaten, desto strahlender die eigene Existenz als späte Antipoden.“ Eine einfache Rechnung: Wenn das Volk in Faschisten und Antifaschisten zerfällt, dann werden die einen um so besser dastehen, je schlechter die anderen aussehen.
Neben Gerhard Schröder selbst haben sich vor allem die Genossen Sigmar Gabriel, vorübergehend Parteivorsitzender, und später Heiko Maas, im Kabinett Merkel erst Justiz-, dann Außenminister, im Kampf gegen Rechts hervorgetan. Gemeinsam zogen sie von einer Stadt in die andere und warben für ihre Partei, die SPD, um Stimmen, indem sie das Volk als Mob, Gesindel oder Pack ansprachen.
Als sie beim Volk damit nicht gut ankamen, nutzten sie einige Jahre später, im November 2007, ein inszeniertes Ereignis in der sächsischen Kleinstadt Mittweida, um noch einmal groß am Rad zu drehen. Dort hatte sich eine 17jährige linke Gans ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt und behauptet, „Neonazis“ wären das gewesen. Es dauerte nicht lange, bis der Schwindel aufflog, aber das änderte nichts am antifaschistischen Programm, das auch diesmal wieder nach dem gewohnten Schema ablief. Die Simulantin wurde als Heldin gefeiert und mit einem Preis für Zivilcourage dekoriert, der ihr in einer Festversammlung von einer Staatssekretärin, die eigens dazu von Berlin nach Mittweida entsandt worden war, feierlich überreicht wurde. Die Botschaft war klar: Zivilcourage ist das, was wir so nennen. Auch eine Denunziantin kann Courage zeigen, wenn sie die richtigen Leute aufs Korn nimmt. Wer das nicht einsieht, ist ein Faschist, und weil Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist, verdient er Strafe.
Den Machthabern schlägt offene Verachtung entgegen
Diese Logik muß Angela Merkel, Schröders Nachfolgerin im Kanzleramt, tief beeindruckt haben. Jedenfalls hat sie mit dem Theater weitergemacht, sich sogar an die Spitze des Aufstands gesetzt. Mit dem Erfolg, daß die anständigen Parteien von Wahl zu Wahl immer schlechter abschnitten, während die unanständigen an Zulauf gewannen. Zwölf Jahre nachdem Gerhard Schröder den Aufstand ausgerufen hatte, war die Zeit reif für eine neue Partei, die AfD, der nach weiteren zwölf Jahren eine zweite Neugründung folgte, das BSW, das Bündnis Sahra Wagenknecht. Der Aufstand war gescheitert, er hatte das Gegenteil von dem bewirkt, was er bewirken sollte. „Wie man Populisten züchtet“, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung die Entwicklung.
Teile der Gesellschaft hätten den Anstand verloren, hat Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, neulich auf dem Portal X dazu bemerkt. Die Gesellschaft, das sind aus ihrer Sicht die anderen, die Menschen draußen im Lande, die dumm oder böse oder beides zugleich sind und deshalb zur Räson gebracht werden müssen. Die Leute verhalten sich unanständig, wenn sie Politikern, die so reden wie Olaf Scholz, so rechnen wie Christian Lindner oder so aussehen wie Claudia Roth, den Respekt verweigern. Tatsächlich dürfte es kaum je eine Zeit gegeben haben, in der den Machthabern ein solches Übermaß an offen eingestandener Verachtung entgegenschlug wie heute. Die Bürger machen sich einen Spaß daraus, die Steine, die ihnen an den Kopf geworfen werden, zurückzuwerfen. Sie nehmen die Regierung nicht mehr ernst.
Das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, zwischen „uns“ und „denen“, ist gründlich zerrüttet. Beleidigungen von unten werden von denen da oben mit Abmahnungen und Strafanzeigen beantwortet. Allein Robert Habeck, der grüne Ritter, hat Dutzende davon auf den Weg gebracht – und ist vermutlich stolz darauf. Wie seine Kabinettskollegen hält er alle, die sich weigern, beim Aufstand der Anständigen mitzumachen, für unanständig. Sie sind die Bösen, die gestellt und bestraft werden müssen. Um ihnen beizukommen, soll die Unschuldsvermutung, der harte Kern der bürgerlichen Freiheit, aufgehoben werden. Der Bürger muß beweisen, daß er zu Unrecht in Verdacht geraten ist, nicht die Behörde das Gegenteil. Wenn der Beschuldigte das unanständig findet und auch so nennt, ist das für Innenministerin Nancy Faeser ein Grund mehr, mit aller Härte gegen ihn vorzugehen.
Alle Umfragen der jüngeren Zeit lassen darauf schließen, daß sich die Mehrheit der Bürger von dieser Regierung übergangen und mißachtet, verschaukelt und entmündigt fühlt. Und daß diese Mehrheit ständig wächst. Keine drei Jahre hat die selbsternannte Fortschrittskoalition gebraucht, um die Wähler gründlich zu verschrecken. Das Grundgesetz hat für diesen Fall in Artikel 68 das Instrument der Vertrauensfrage bereitgestellt; doch Kanzler Scholz will es partout nicht nutzen. Er fürchtet, daß seine Regierung eine Vertrauensabstimmung nicht überleben würde. Im Gegensatz zur Mehrheit, die eben darauf hofft.
Foto: Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel (r.), und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, Esra Cohn (2.v.r.), erläutern am 4. Oktober 2000 Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (l., beide SPD) den Hergang des Anschlags auf ihre Synagoge