© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Die Legende von Saul und Sylvia
Kino: „Memory“ handelt von schwindenden Erinnerungen und bereichert den Filmkosmos um ein weiteres seltsames Paar
Dietmar Mehrens

Memory“ ist der Name für ein Gesellschaftsspiel, bei dem man sich Bilder auf kleinen Kärtchen merken muß, um sie in einem unsortierten Haufen wiederzufinden. Ein solcher unsortierter Haufen sind auch die Erinnerungen von Saul Shapiro (Peter Sarsgaard). Und es verschwinden, um im Bild zu bleiben, auch immer wieder Kärtchen. Saul leidet nämlich unter beginnender Demenz. Er kann sich an vieles noch erinnern, Gesichter, Gefühle, Stimmen, aber vieles rutscht ihm auch durch.

Der verwitwete New Yorker leidet damit an etwas, das Sylvia (Jessica Chastain) manchmal gern hätte. Sie würde am liebsten ein paar Bilder aus ihrem Kartenhaufen aussortieren und für immer verschwinden lassen. Die attraktive Rothaarige schleppt nämlich ein düsteres Geheimnis aus ihrer Jugend mit sich herum, das sie auf die schiefe Bahn und an den Alkohol geraten ließ. Recht passend zum Grundton dieses Filmdramas beginnt es daher mit den Worten: „Ich war gebrochen, ich war verloren, ich war hoffnungslos.“

Dank der Darsteller reißt der Spannungsfaden nicht ab

Geäußert werden sie bei einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker. Sylvia verdankt der Gruppe, daß sie seit dreizehn Jahren „trocken“ ist, und hat zu dem Jubiläum, das deshalb gefeiert wird, ihre 13jährige Tochter Anna (Brooke Timber) mitgebracht. Mit ihr lebt die Abstinenzlerin in bescheidenen Verhältnissen. Für etwas Geld im Portemonnaie sorgt ihre Tätigkeit in einer sozialen Einrichtung für Menschen mit Behinderung.

Die Alleinerziehende zögert etwas, ob sie der Einladung zu einem Ehemaligentreffen ihrer Schule folgen soll. Dann geht sie aber doch hin – und fühlt sich wie Falschgeld. Als ein merkwürdiger bärtiger Mann, nämlich Saul Shapiro, neben der einsam am Tisch Sitzenden Platz nimmt, wird ihr das rasch unangenehm. Sie verläßt die Veranstaltung, aber der Fremde folgt ihr zur S-Bahn-Station, geht mit ihr in die Bahn und übernachtet schließlich im Freien vor ihrem Haus. Dort liest die Sozialarbeiterin den Unterkühlten am nächsten Morgen auf. Ihr wird klar: Dieser Mann braucht Hilfe. Von ihr sollte er die aber besser nicht erwarten. Denn Sylvia ist sich sicher, in Saul einen der beiden jungen Männer wiedererkannt zu haben, die sie als Zwölfjährige sexuell mißbrauchten. Das ist zumindest das, was ihr Gedächtnis ihr verrät. Aber sollte man dem in einem Film, der den Verfall des Erinnerungsvermögens zum Thema gemacht hat, unbedingt trauen?

Schon diese kurze Inhaltsübersicht macht deutlich, daß „Memory“ eine sehr originelle Idee zugrunde liegt, nämlich zwei Menschen aufeinandertreffen zu lassen, die Probleme mit ihren Erinnerungen haben. Und das ist normalerweise für einen gelungenen Film die halbe Miete. Anschließend kommt es nur noch darauf an, was für eine Geschichte man um die Ausgangsidee herum webt und wie man sie inszeniert.

Ersteres gelingt dem Mexikaner Michel Franco so einigermaßen, letzteres tadellos. Sein Drehbuch ist trotz des aufregenden Beginns eher glanzlos. Aber mehr Glanz hätte zu dieser Geschichte auch nicht gepaßt. Mit märztrüben Grautönen, wenig erbaulichen Ansichten vom urbanen Prekariat und einer sehr präzisen Arbeit mit den Gestaltungsmitteln Licht und Perspektive zieht der Regisseur sein Publikum gekonnt hinein in seine alles in allem eher schlichte und einfache Geschichte über Verletzungen, Verunsicherung und Vergessen. Durch eine Reihe von Nebenfiguren aus Sylvias und Sauls Familie, unter denen ihre Mutter Samantha (Jessica Harper) die interessanteste ist, sorgt der 45jährige dafür, daß der Spannungsfaden nicht abreißt und der Zuschauer interessiert folgt. Das liegt natürlich auch an den „erstaunlichen schauspielerischen Leistungen von Chastain und Sarsgaard“, wie die Los Angeles Times urteilte. Aber auch die Nebendarsteller überzeugen. Francos Filmdrama ist damit ein ebenso seltenes wie rühmliches Beispiel für Filmkunst, die zu fesseln vermag, ohne auf die Tränendrüse zu drücken und ohne auf die große Pauke zu hauen.

Seine Weltpremiere feierte „Memory“ voriges Jahr bei den Filmfestspielen von Venedig, wo Peter Sarsgaard den Volpi-Pokal für die beste männliche Darstellerleistung gewann. Auf dem Filmfestival in Zürich wurde auch Jessica Chastain ausgezeichnet. „Die Leute reden davon, sich in ihren Rollen zu verlieren“, sagte Sarsgaard anläßlich der Preisverleihung in der Lagunenstadt, „aber wir fanden uns in unseren.“ Es spricht also einiges dafür, daß dieser Film im Gedächtnis bleiben wird.


Kinostart ist am 3. Oktober 2024

Foto: Saul Shapiro (Peter Sarsgaard) und Sylvia (Jessica Chastain): Geschichte über Verletzungen