© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

GegenAufklärung
Karlheinz Weissmann

Es gibt Kleinigkeiten im fremden Alltag, die so eigentümlich wirken und sich so zäh halten, daß man sie nur als Kernelemente der Gruppenidentität erklären kann. In Frankreich zum Beispiel: die Gewohnheit (von Männern), im Auto die Scheibe der Fahrerseite herunter- und den Unterarm heraushängen zu lassen, zwischen den Fingern eine (filterlose) Zigarette, der Breitenwiderstand gegen die Beachtung des Zebrastreifens, das Bezahlen im Supermarkt mit Verrechnungsscheck, das Angebot von Joghurt in kleinen bauchigen Glasbehältern.

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„Deshalb wehre ich mich noch gegen die Erkenntnis, wiewohl sie vielleicht wahr ist: Es braucht erst die großen Katastrophen, um wirklich die großen Veränderungen zu erleben. Die Kraft, die die Gestalter der europäischen Integration angetrieben hat, war der Zweite Weltkrieg. Den haben sie erfahren mit all seinen Schrecken, und das war ihr Movens. Es stellt sich die Frage: Kann die jetzige Generation Deutschland und Europa ohne neue Katastrophe schnell genug auf den richtigen Pfad führen? Ich hoffe es, aber ich zweifle.“ (Sönke Neitzel, Militärhistoriker, im Interview mit der Tageszeitung Die Welt, Online-Ausgabe vom 21. September) 

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Vielleicht fällt die Parteigeschichte der Grünen wesentlich knapper aus als erwartet, reduziert auf drei Phasen: die Geburt aus dem Chaos der Neuen Sozialen Bewegungen, Bürger- und Umweltschutzinitiativen, versprengten konservativen Naturschützern und Resten der K-Gruppen, Übernahme durch die „Realos“, die ihren Frieden mit dem „System“ und dem „Neoliberalismus“ und sogar dem imperialistischen Gottseibeiuns USA gemacht hatten, Etablierung als postmoderne / postindustrielle / postmaterielle Vertretung der ökologisch erweckten Mittelschicht. Wenn die Grünen jetzt in der Existenzkrise stecken, dann weil der Erfolg auf der (klug verborgenen) Annahme bleibenden, sich permanent selbst erneuernden Wohlstands beruhte und der Überzeugung, daß man straflos auf Quote statt Qualifikation setzen und dem Nachwuchs erlauben dürfe, sich einer Art Extremismus light zu verschreiben, dessen Antifaschismus / Antirassismus / Antipatriotismus / Antispeziesismus nur nicht ganz so krawallig daherkam wie der des Schwarzen Blocks.

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Am 11. September hat das französische Innenministerium einen Bericht veröffentlicht, dem zufolge während des laufenden Jahres 3.174 sexuelle Übergriffe und Belästigungen zur Anzeige gebracht wurden; womit die Zahl dieser Delikte seit 2016 um 74 Prozent gestiegen ist. Dabei wurden 43 Prozent der Taten von Ausländern begangen, in Paris und der Region Ile de France betrug die Rate sogar 60 Prozent. Bemerkenswert an einem Bericht des Magazins Valeurs Actuelles zu diesem Thema ist, daß Frauen, die entsprechende Attacken zur Anzeige brachten, von der Polizei aufgefordert wurden, jede Kennzeichnung der Täter in bezug auf Aussehen oder Herkunft zu unterlassen; sie dürften nur von „Männern“ sprechen, die sie eben als „weiße Schlampe“ etc. bezeichnet oder unsittlich berührt hätten. Nach einer Umfrage erklärte fast die Hälfte der Frauen, die in den französischen Städten öffentliche Verkehrsmittel benutzt, sie verzichte bewußt auf Dekolleté, kurzen Rock oder auffallenden Schmuck, um jede „Provokation“ zu vermeiden.

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Man hört kaum noch, daß irgend etwas – eine Bewegung, eine Weltanschauung, eine Sozialstruktur, eine Gesellschaft – an ihren „inneren Widersprüchen“ zugrunde gehen müsse. Was entweder auf die Einsicht zurückzuführen ist, wie fidel sich mit „inneren Widersprüchen“ leben läßt, oder mit der Sorge zu tun hat, daß die bestehenden Verhältnisse „innere Widersprüche“ zeigen, die allerdings ihre Fortdauer in Frage stellen.

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Wenn man Kriminalromane bloß zur Entspannung liest und deshalb auf Entführung, Folter, Kinder- oder Serienmord als Motiv ebenso verzichten möchte wie auf Ermittler mit Suchtproblemen oder schwerer seelischer Traumatisierung oder sexueller Desorientierung, wird die Auswahl unter neueren Titeln eng.

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Die Vorgänge bei der Eröffnung des Thüringer Landtags belehren darüber, daß es nicht nur das klassische und das amerikanische Verständnis von Demokratie gibt. Ersteres hält die Demokratie für ein Verfahren, bei dem die Mehrheit auf Zeit bestimmt, wo es lang geht, entsprechend der Einsicht Chestertons, daß man die wirklich gefährlichen Entscheidungen – Gattenwahl, Kindererziehung, Bestimmen der Regierung – den Leuten selbst überlassen sollte. Zweiteres beruht auf der Überzeugung, daß „demokratisch“ und „gut“ Synonyme sind, weshalb erst dann Demokratie herrscht, wenn solche Ideen in den Gesellschaftskörper „eingesickert“ (Adorno) sind und social engineering dafür sorgt, dieses Ziels zu verwirklichen. Das neueste Verständnis greift dieses Konzept auf und ergänzt es um die Idee, daß es sich bei Demokratie um einen closed shop handelt, wobei die, die „drin“ sind, tief in die politische Trickkiste greifen dürfen, um alle, die „draußen“ sind, auch draußen zu halten.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 18. Oktober in der JF-Ausgabe 43/24.