© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Patriarch im Geisterhaus
Die Suhrkamp-Kultur und die geistige Gründung der Bonner Republik: Zum hundertsten Geburtstag des Verlegers Siegfried Unseld
Wolfgang Müller

In der deutschen Literaturgeschichte markiert das Jahr 1959 nicht nur durch Günter Grass’ „Die Blechtrommel“ und Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ ein Wendejahr. Als langfristig weitaus folgenreicher erwies sich, daß nach dem Tod Peter Suhrkamps, im März 1959, sein Vizechef Siegfried Unseld an dessen Stelle rückte. Damit hatte der am 28. September 1924 in Ulm geborene Sohn eines Verwaltungsbeamten aber erst eine Zwischenstation einer in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Verlagswesens beispiellos steilen Karriere erreicht. Im Frühjahr 1945 aus der Kriegsmarine, in deren Reihen er auf der Krim und im Schwarzen Meer kämpfte, und aus englischer Gefangenschaft entlassen, absolviert Unseld zunächst eine Buchhändlerlehre im heimischen Ulm, studiert in Tübingen, promoviert dort über Hermann Hesse und stößt 1952 als Assistent zu dem von Gestapo- und KZ-Haft schwer gezeichneten Peter Suhrkamp, der zwei Jahre zuvor seinen Verlag neu gegründet hatte.

Bereits unter Suhrkamp war das Unternehmen, dessen Programm zunächst die bürgerliche Leitkultur der Wirtschaftswunderära bot, erfolgreich bemüht, Autoren des Exils, allen voran Bertolt Brecht und den vermeintlich eher unpolitischen, seit Jahrzehnten in der Schweiz lebenden, nach 1933 gleichwohl verfemten Hermann Hesse auf den (west-)deutschen Buchmarkt zurückzuholen. Doch erst Suhrkamps Assistent, Prokurist und schließlich Nachfolger, so erinnert sich sein Kollege Michael Krüger in einem Unseld zum 100. Geburtstag gewidmeten Heft der Zeitschrift für Ideengeschichte (3/2024), der die emigrierte deutsch-jüdische Intelligenz „heilig und ernst genommen“ habe, bürgert die „Frankfurter Schule“, Adorno, Benjamin, Kracauer & Co., wieder ein. Um zugleich den „Weg nach Westen“ weiter zu wandern, indem er alle Spielarten der radikalen, in Frankreich und den USA entworfenen Philosophie und Gesellschaftstheorie im Verlagsportfolio versammelt.

Taschenbuchreihe der 68er-Bewegung

1963 startet Unseld die in allen Spektralfarben leuchtende Taschenbuchreihe „edition suhrkamp“, deren Bände schnell zum wichtigsten Möbelstück studentischer Wohnkultur gehören und „die wilden Jahre des Lesens“ (Ulrich Raulff) einläuten. In Theorie und Ideologie bereitet diese Reihe die „paperback revolution“ der 68er-Bewegung vor und erfüllt nebenbei idealtypisch die Regeln der „Charakterwäsche“ (Caspar von Schrenck-Notzing) getauften westalliierten Reeducation. Jährlich erscheinen 48 Bände von diesem „intellektuellen Grundnahrungsmittel“. Bis heute wurden 41 Millionen Exemplare des studentischen Lesefutters verkauft, das als „suhrkamp culture“ zum Synonym für den geistigen Bewußtseinsraum der Bonner Republik geworden ist.   

Dem linksliberalen Image seines in einer Frankfurter Westenendvilla, dem „Geisterhaus“ an der Klettenbergstraße, residierenden Verlages zum Trotz führt Unseld, ein ewig unter Dampf stehender Leistungsethiker der Aufbaugeneration – in dessen globale, sich zwischen New York, Jerusalem, Tokio und Paris spielenden Aktivitäten eine 2020 veröffentlichte Auswahl seiner „Reiseberichte“ erstaunliche Einblicke gewähren –, ein beinahe absolutistisches Regiment. Dieser forsch zupackende, mitunter kühn am wirtschaftlichen Abgrund segelnde, den Verlag autoritär führende Patriarch, der wegen zahlreicher „Affären“ heute wohl eine leichte Beute von „MeToo“-Sirenen wäre, erwies sich aber gelegentlich auch, was die Beiträge dieses Jubiläumshefts – mit einer Ausnahme – ausblenden, als schwacher Herrscher. 

Als solchen schildert ihn anekdotenhaft die Habermas-Hagiographie von Stefan Müller-Doohm (2014). Im Dezember 1971 habe ihn Ute Habermas angerufen und geklagt, sie und ihr Mann seien verärgert darüber, daß die edition suhrkamp ein Werk des kubanischen Lyrikers Heberto Padilla offeriere, das Sankt Jürgen diffamiere. Unter der Überschrift „Theodor Adorno kehrt vom Tode zurück“, heißt es in dem von Enzensberger empfohlenen und von Günter Maschke übersetzten Gedichtband: „Die ihn kannten/ finden es nicht erstaunlich, daß Theodor Adorno vom Tode zurückkehrt./ In beiden Deutschland erwarten ihn alle,/ ausgenommen, versteht sich,/ Habermas und Ulbricht.“

Habermas drohte, seine Titel zurückzuziehen

Unseld entschuldigt sich umgehend und devot für die „Unmöglichkeit“ einer solchen Publikation. Zuvor hatte ihm Habermas gedroht, seine Titel aus der edition suhrkamp zurückzuziehen und dort künftig nichts mehr zu publizieren. Eine erfolgreiche Erpressung, denn „Unseld beschließt sofort, den fraglichen Gedichtband nicht mehr aufzulegen und die Rohbögen zu makulieren. Habermas war beruhigt …“ Ein Mückenstich, der zwei Elefanten zum Atomschlag provozierte und die seine das Verlagsprogramm prägende Ideologie des herrschaftsfreien Diskurses im Nu entzauberte. Nicht das bessere Argument triumphierte hier und später dann in hundert anderen Fällen, sondern die Wahl der richtigen Telefonnummer. Die dem herrschsüchtig-tückischen Kommunikationstheoretiker einen exklusiven Zugang zu medialen Machthabern eröffnete. 

Einen noch krasseren Opportunismus dokumentiert der Beitrag des Literaturhistorikers Lothar Müller (HU Berlin). 1979 erhielt Unseld das Angebot George Steiners (1929–2020), dessen Kurzroman  „The Portage to San Cristobal of A. H.“ in deutscher Übersetzung herauszubringen. Der Text erzählt einen nach dem Muster der Eichmann-Entführung entworfenen fiktiven israelischen Zugriff auf Adolf Hitler, der sich nach geglückter Flucht aus dem Führerbunker im brasilianischen Regenwald verborgen hatte. Der Komparatist Steiner, einer der angelsächsischen Literaturwissenschaftler, Hausautor, Erfinder des für Reklamezwecke gern verwendeten Gütesiegels „suhrkamp culture“, war als jüdischer Emigrant für Unseld persona grata und moralische Instanz. Trotzdem erteilte er ihm eine Absage. Gestützt auf vehement ablehnende Gutachten von Uwe Johnson, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch und Dolf Sternberger stufte er den Text, mit ängstlichem Blick auf die 1979 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlte, auf ein starkes Echo gestoßene US-TV-Serie „Holocaust“, als „jüdischen Selbsthaß“ à la Otto Weininger und Theodor Lessing ein. Die „allerschärfsten Antisemiten“ seien eben „unter Juden zu finden“, wie Max Frisch urteilt.

Ordnen die Gutachter schon Hitlers Völkermord an den Juden Europas mit dem Verweis auf Stalins Menschheitsverbrechen relativierende „Verteidigungsrede“ vor einem improvisierten Dschungel-Tribunal als so skandalträchtig ein wie dessen Behauptung, der wahre Messias des jüdischen Volkes und der Staatsgründer Israels gewesen zu sein, will Unseld die eigentliche Bombe des Textes darin erkennen, daß der von einem obsessiven Antizionismus getriebene Steiner die auch im Suhrkamp-Programm favorisierten historisch-sozialpsychologischen Deutungen singulären deutscher Schuld am Holocaust zurückweist. Um stattdessen die deutsche Judenfeindschaft als Teil des tief in der europäischen Kultur verankerten metaphysischen Antisemitismus zu begreifen. Eine These, die das Weltbild der Generation Unseld erschüttern mußte. Der in den 1980ern in viele Sprachen veröffentlichte „kleine Teufelsroman“ (Steiner) wurde daher bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.

Nur einen verlegerischen Fehlschlag, räumt sein Bewunderer Michael  Krüger ein, habe sich der Alphamann Unseld geleistet. Der allerdings wies auf eine Epochenwende der Lesekultur voraus. 1982, bevor der Siegeszug des Internets begann, bastelte der Goethe-Verehrer Unseld, der nicht nur scherzhaft damit kokettierte, vielleicht ein neuer Cotta werden zu können, an seinem ehrgeizigen Projekt eines „Deutschen Klassiker Verlags“, der die deutsche Literatur vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein in neu kommentierten Editionen bereitstellen sollte. Diese Bibliothek war auf 800 Bände angelegt, realisiert wurden bis zum Abbruch des Unternehmens 150. Das war nicht dem hohen Ladenpreis geschuldet, sondern der Tatsache, daß die Jahre des wilden Lesens vorbei waren. „Was Unseld nicht wissen wollte und nicht wissen konnte: daß in der Bundesrepublik eine Generation heranwuchs, die nichts mehr von Wieland, Kleist und Jean Paul wissen wollte.“

Siegfried Unseld: Hundert Briefe. Mittei-lungen eines Verlegers 1947–2002. Hrsg. von Ulrike Anders und Jan Bürger,  Suhrkamp, Berlin 2024, gebunden, 468 Seiten, 26 Euro