Für Juden in Deutschland sind die Zeiten hart geworden. Der „offene und aggressiv auftretende Antisemitismus in all seinen Ausprägungen“ sei „so stark wie noch nie seit 1945“, räumt der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung ein. Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 ist die Situation eskaliert. Laut der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ Berlin (RIAS-Berlin) gibt es seitdem in der Hauptstadt durchschnittlich bis zu zehn judenfeindliche Vorfälle pro Tag: körperliche Angriffe, gezielte Sachbeschädigungen, Brandanschläge, Schmierereien. Jüdische Studenten erleben an den Universitäten offene Feindseligkeit. Im Februar 2024 wurde ein jüdischer Student von einem palästinensischen Kommilitonen zusammengeschlagen und erlitt Knochenbrüche im Gesicht sowie eine Hirnblutung.
Als bedrohlich empfunden werden pro-palästinensische Demonstrationen, auf denen neben israelkritischen auch klar judenfeindliche Parolen gerufen werden. Juden vermeiden es, ihre Herkunft oder Religion durch Kleidung und Accessoires kenntlich zu machen. Jüdische Restaurants werden bedoht und müssen schließen, weil Gäste ausbleiben. Jüdisches Leben in Berlin wird unsichtbar. In der Jüdischen Allgemeinen hieß es kürzlich: „Während der Bewegungsradius schrumpft, wächst ein Ghetto, von dem die Juden dachten, daß es nie wiederkommt.“ Es sei riskant, zu Hause Post aus Israel zu erhalten, Freunde zögen sich zurück, und selbst Demonstrationen gegen Rechts seien unerfreulich, „weil manche Demonstranten Juden noch mehr hassen als Neonazis“.
Für die agilen Mahner, Warner, Zeichensetzer, Gesichts- und Haltungszeiger, die den „Aufstand der Anständigen“ als moralischen Leistungssport betreiben, eröffnet sich ein weites Betätigungsfeld, doch die Zivilgesellschaft übt sich in Zurückhaltung.
Grundsätzlich unterscheidet die Lage in Berlin und in Deutschland sich kaum von der in anderen westlichen Ländern, wo der Postkolonialismus-Diskurs den Diskurs über den Holocaust ablöst und sich mit der Empörung über die Kriegsführung Israels vermischt. Das deutsch-jüdische Sonderverhältnis und die „besondere deutsche Verantwortung“, die sich im Holocaust-Mahnmal, in den KZ-Besuchen von Schulklassen, in Stolpersteinen, Bußprozessionen und der Beschwörung des „Nie wieder!“ manifestiert haben, erweisen sich als eine wenig belastbare Angelegenheit.
In den 1990er Jahren wurde in der Berliner Kultur- und Alternativszene eine regelrechte deutsch-jüdische Renaissance zelebriert. Sie füllte die identitäre Leerstelle, die sich nach dem Mauerfall in beiden Stadthälften aufgetan hatte. Im Ostteil war die „Hauptstadt der DDR“ passé; der Westteil hatte seine Funktion als subventioniertes Szenebiotop und Loch im Herzen der DDR verloren. Im ehemaligen jüdischen Viertel in der alt-neuen Mitte Berlins, in der Oranienburger Straße, die von der mächtigen, goldglänzenden Kuppel der Synagoge dominiert wird, entstand die Vision eines neuen geistig-kulturellen Egos. Jüdische Artefakte wurden wiederentdeckt, die jungen Israelis und die Juden aus Rußland, die hier eintrafen, wurden als Kronzeugen des geläuterten deutschen Selbst willkommen geheißen. Das wirkte oft penetrant, beflissen, nostalgisch und war von politisch-korrekter Sentimentalität durchtränkt, doch war es auch Ausdruck einer metaphysischen Sehnsucht. Das direkt neben der Synagoge gelegene Café Oren (Pinie), das einen „jewish Style“ pflegte, ohne koscher zu sein, war stets überlaufen. Der Geist des legendären Romanischen Cafés schien hier wieder aufzuleben. Jenes Café an der Gedächtniskirche im Berliner Westen war in den zwanziger Jahren ein Treffpunkt von Künstlern, Journalisten, Intellektuellen, darunter viele Juden, gewesen. Nach 1933 „sahen (wir) die Terrasse und das Kaffeehaus wegwehen, verschwinden mit seiner Geistesfracht, sich in nichts auflösen“, schrieb Wolfgang Koeppen in einem berühmten Nachruf.
Die Beschwörung einer neuen deutsch-jüdischen Symbiose im Geiste dauerte nur kurz. Der schwärmerische Philosemitismus ist einer emotionalen Identifizierung mit den Palästinensern gewichen. Berlins Kultursenator Joe Chialo spricht davon, „daß bei Menschen jüdischen Glaubens viel Unsicherheit und Sorge herrscht, diffamiert oder gecancelt zu werden. Diese Angst wird mit Brutalität und Rücksichtslosigkeit in die Kulturlandschaft hineingetragen“ und betrifft unmittelbar „proisraelische Künstler und viele jüdische Künstler in Berlin“.
Mit Solidarität aus der Zivilgesellschaft können sie nicht rechnen. Die würde angesichts der demographischen Veränderungen in der Stadt und im Land und des importierten Gewaltpotentials großen Mut erfordern. Mut aber läßt sich nicht erheucheln.
Geht man der Frage nach, wie es so weit kommen konnte, stößt man auf den Urgrund der Vergangenheitsbewältigung, die in den frühen 1960er Jahren einsetzte. Es ging nicht nur um die – zweifellos nötige – juristische Ahndung von NS-Verbrechen, sie war auch als Kollektivtherapie und transzendentes Hochamt angelegt. Das therapeutische Leitmotiv wurde in Margarete und Alexander Mitscherlichs Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ vorgegeben. Gegen die im Titel enthaltene These wurde eingewandt, daß es kaum eine deutsche Familie gab, die nicht um menschliche und andere Kriegsverluste trauerte. Den Mitscherlichs war es jedoch nicht um die erlittenen, sondern um die von Deutschen verursachten Toten gegangen, für deren Eingedenken allerdings eher Begriffe wie Grauen, Entsetzen, Scham angemessen waren. Das aber sind keine expressiven, sondern reflexive Affekte. „Scham ist nicht schrill“, schrieb der ungarische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende György Konrád. Den pompösen Trauer-Bekundungen aus Staat und Gesellschaft haftete daher immer etwas Erheucheltes und Pharisäerhaftes an. Die Nebenwirkung war ein immer restriktiveres Trauerverbot über die eigenen Verluste, das zu einem neurotischen Gefühlsstau führte.
Die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 setzte der neurotischen Verfaßtheit die sakrale Krone auf. Er erklärte die Erinnerung an den Holocaust zu einer niemals endenden Aufgabe, denn sie sei „die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte.“ Das Vergessen wäre „nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten ...“
Faktisch hatte der Bundespräsident den Deutschen die „postkonventionelle Identität“ (Jürgen Habermas) einer Erbschuld-Gemeinschaft und den dauerhaften geistig-moralischen Ausnahmezustand verordnet. Ein Jahr später kam es zum sogenannten Historikerstreit, der eine metahistorische „Singularität“ des Judenmordes festschrieb. Von dort führte ein schnurgerader Weg zur sogenannten Goldhagen-Debatte, die sich 1996 am Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ des US-Historikers Daniel J. Goldhagen entzündete. Er erklärte den Holocaust zum nationalen Projekt, das seit Urzeiten im deutschen Wesen gewest und dem der Führer endlich zum Durchbruch verholfen hatte.
Die These wurde von der Historikerzunft im In- und Ausland durchweg verworfen, was ihrem Triumph in Deutschland keinen Abbruch tat. Eine studentische Zuhörerschaft – die künftigen Lehrer, Dozenten, Journalisten, Politiker usw. – hing dem jungen, blendend aussehenden Autor auf seiner Lesetournee durch Deutschland wie einem Popstar an den Lippen. „Je härter Goldhagen von den deutschen Historikern attackiert wird, desto stärker ergreift das Publikum für ihn Partei“, stellte der Zeit-Redakteur Volker Ullrich, der die Kampagne angestoßen hatte, befriedigt fest. Es verfestigte sich der Begriff „Tätervolk“ für die Kriegs- und Vorkriegsgenerationen, von der sich die Kinder- und Enkelgenerationen desto nachdrücklicher absetzten.
Die Entfremdung vollzog sich nicht nur zwischen den Generationen. Auch Ost und West waren sich nicht bewußt, wieviel Gemeinsamkeit ihr Nachkriegsschicksal aufwies. Das Trauerverbot war in der DDR restriktiver gewesen als im Westen. Die furchtbaren Begleitumstände der Eroberung durch die Sowjets waren mit einem absoluten Tabu belegt. Öffentliches Gedenken an die Kriegstoten galt ausschließlich den „Helden“ der Roten Armee, die die „Faschisten“ besiegt und die DDR-Deutschen „befreit“ hatten, während die eigenen Väter, Söhne, Brüder als faschistische Mordbrenner figurierten. Den westdeutschen Meinungsführern fiel nichts Besseres ein, als den Beitrittsdeutschen als Ergänzung zum realsozialistischen Trauertabu ihren zivilreligiösen Holocaustbezug zu verordnen. Was unter dem Strich bedeutete, aus dem Schuldverdikt über das nationale Selbst und der permanenten Vergegenwärtigung des Unwerts der eigenen Vorfahren eine künftige gesamtdeutsche Identität zu erschaffen.
Jüdische Vertreter und Funktionäre fanden sich in einer privilegierten Sprecherposition wieder; manche wurden sogar als moralische Instanzen angerufen. Das gab ihnen die Chance, die neurotischen Verspannungen zu lösen und den Anstoß für die Formung eines ganzheitlichen Geschichtsbildes zu geben, das die exzeptionelle Dimension des Judenmordes genauso berücksichtigte wie die Leiden und Verluste der Deutschen.
Die Chance wurde vertan. Auf zaghafte Versuche, sich über die jüngere deutsche Geschichte neu zu verständigen – über den Bombenkrieg, die Versenkung der „Wilhelm Gustloff“, die Massenvergewaltigungen durch die Rote Arme, das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 usw. – reagierte das politisch-mediale Establishment reflexhaft mit Warnungen vor einer NS-Verharmlosung. Der Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach und dem von ihr vorangetriebenen „Zentrum gegen Vertreibungen“ wurden die Absicht unterstellt, das Holocaust-Gedenken zu imitieren und zu relativieren. Als der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann 2003 in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit mit einer hypothetischen Analogie die Unsinnigkeit des „Tätervolk“-Begriffs aufzuzeigen versuchte, brach über ihn ein öffentlicher Tsunami herein. Berüchtigt waren die inquisitorischen Fernsehinterviews des Moderators Michel Friedman, der sich als Kämpfer gegen Rechts aufführte. Der Rezensent der Berliner Zeitung fühlte sich an einen „erbarmungslos immer wieder nachstoßenden Folterer“ erinnert. Das alles wirkte einschüchternd, schuf aber keine Sympathien.
Die historische und geschichtspolitische Engführung trübte den Realitätssinn und die Urteilskraft. Insbesondere blockierte sie alle Versuche einer rationalen Diskussion über die Asyl-, Ausländer- und Migrationspolitik. Der Verweis auf das Dritte Reich und die Kaltherzigkeit des Auslands, das sich damals geweigert hatte, seine Grenzen für die vom Tod bedrohten Juden zu öffnen, blieb ein unüberwindliches staatsideologisches Axiom, obwohl die Sturmzeichen sich mehrten.
So mußte in Berlin das jüdische Restaurant Oren 2004 Insolvenz anmelden. Die Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem 11. September 2001 aus Sorge vor islamistischem Terror rund um die benachbarte Neue Synagoge ergriffen wurden – mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten, ein stationierter Panzerwagen, sperrige Betonblöcke, die Verlegung der Straßenbahn – hatten das Publikum abgeschreckt.
Trotzdem verteidigte Zentralratspräsident Josef Schuster noch 2015 die von Angela Merkel veranlaßte Grenzöffnung mit dem Argument, Deutschland sei „das letzte Land, das es sich leisten kann, Flüchtlinge und Verfolgte abzulehnen“, denn es habe so viel Unheil über die Welt gebracht und stehe bei so vielen Ländern tief in der Schuld. Steigende Flüchtlingszahlen und islamistischer Terrorismus seien „kein Grund, ein christlich-jüdisches Abendland ohne Muslime zu proklamieren“.
Der Historiker Michael Wolffsohn verglich die Kanzlerin mit Willy Brandt, der im Dezember 1970 am Mahnmal des Warschauer Ghettos in die Knie gegangen war. Wie der damalige Innenminister Horst Seehofer jetzt enthüllte, stand Merkel tatsächlich unter dem Eindruck der Schuld-und-Sühne-Logik. „Merkel hat 2015 mir gegenüber immer argumentiert, daß Deutschland eine belastete Geschichte habe, und daß wir jetzt in einem ganz anderen Licht erscheinen würden – eben als humane Gesellschaft, die Menschen in der Not hilft. Und daß sich das in den nächsten Jahren für unser Land auszahlen würde.“
Zumindest hat es das Land drastisch verändert. Goldhagens Lesetournee würde heute wegen Sicherheitsbedenken abgesagt. Für die Juden in Deutschland ist es schockierend erkennen zu müssen, daß es bei den Bußritualen der Vergangenheit gar nicht um sie gegangen war. Sie bildeten bloß den Vorwand, den Fetisch, der von Verwirrten umtanzt wurde. Jetzt kippen die Verhältnisse, und der Fetisch wird ausgetauscht. Für die Deutschen, Juden wie Nichtjuden, werden die Zeiten hart.
Foto: Aufkleber mit Darstellung der palästinensischen Flagge auf einem Infodisplay, auf dem der Deutsche Bundestag für Solidarität mit Israel wirbt: Tägliche Vorfälle