Das wußten schon Platon und die alten Römer: Si vis pacem para bellum. Das Sprichwort „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ ist spätestens seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine wieder hoch aktuell. Es wird daher auch von den Autoren der Studie „Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Europas und Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Rußland“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) angeführt, in der das Wort „Krieg“ 111mal, das Wort „Frieden“ hingegen nur sechsmal fällt (Kiel Report 1/24). Hauptziel des Berichts sei es, „den politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit sachliche Informationen an die Hand zu geben, damit sie die Herausforderung, vor der sie stehen, richtig einschätzen können.“
Das Ergebnis in Kurzfassung: Es hat nach der Bundestagsrede von Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 keine „Zeitenwende“ stattgefunden. Die derzeitige Lage, die angestoßenen Beschaffungen und die geplanten Haushaltsmittel für Verteidigung werden der Bedrohungslage durch Rußland in keiner Weise gerecht. Zwei Vergleichsmaßstäbe führt das vierköpfige internationale Autorenteam als Beleg an. Zum einen vergleichen sie die Zahl deutscher Militärgeräte mit den russischen Kapazitäten und Rußlands steigender Produktion. Danach seien die russischen monatlichen Produktionsraten derzeit so hoch, daß sie den gesamten deutschen Bestand an Waffensystemen in etwa einem halben Jahr auffüllen könnten.
Zählt die Verteidigungsindustrie zu den nachhaltigen Investitionen?
Ein Hinweis auf unterschiedliche Qualitäten der Waffen und das Problem der Rekrutierung ausgebildeter Soldaten unterbleibt hier. Zum anderen werden die durchschnittlichen Beschaffungen der letzten zwei Jahre dem Abstand zwischen den heutigen deutschen Materialbeständen und jenen vor 20 Jahren gegenübergestellt. Danach wird es Jahrzehnte dauern, um bei der derzeitigen Beschaffungsgeschwindigkeit ähnliche Kapazitäten wie 2004 aufzubauen (Kampfflugzeuge 14 Jahre, Kampfpanzer 42 Jahre, Haubitzen 97 Jahre). Notwendige Stukturverschiebungen der Beschaffung aufgrund neuer Technologien im Sinne von Drohnen statt Flugzeugen und Panzern bringen diesen Vergleich jedoch in die Nähe eines Erbsenzählens.
Die zentralen Empfehlungen lauten: beschleunigte Bestellungen und Aufstockung des Rüstungsbudgets. Neben einer sofortigen und dauerhaften Erhöhung des Verteidigungshaushaltes (Einzelplan 14) für Ausrüstungsinvestitionen von 52 auf 80 Milliarden Euro wird spätestens ab 2027 ein zweiter Bundeswehr-Schuldenfonds – das erste „Sondervermögen“ betrug 100 Milliarden Euro – gefordert. Zusätzlich soll zur Finanzierung der europäischen Luftverteidigung (Sky Shield) ein „EU-Sondervermögen“ auf Kredit errichtet werden, was den Europäischen Verträgen mehrfach widerspricht. So schließt der EU-Haushalt sowohl eine Schuldenfinanzierung aus (Art. 310 AEUV) wie auch „operative Ausgaben“ zur Beschaffung von militärischer Ausrüstung (Art. 41 Abs. 2 EU-Vertrag).
Abgesehen von den drohenden Lasten aus der Energiewende, einer Modernisierung der Infrastruktur und steigenden Sozialkosten dürfte diese Zusatzfinanzierung politisch kaum tragfähig sein. Gleichzeitig verweisen die Autoren zu Recht auf mögliche Einsparpotentiale: Drohnentechnologie statt Panzer, Flugzeuge und Fregatten; wettbewerbliche Vergabe statt nationalen Protektionismus; Massenproduktionsvorteile durch europäisch-koordinierte Produktion; statt Goldrandlösungen eine Standardisierung der Ausrüstung. Hinzufügen ließe sich eine verbesserte Einsatzfähigkeit der Waffensysteme, die derzeit im Schnitt nur zu 75 Prozent einsatzbereit sind.
Ein großes Thema ist zudem die Bürokratie in der Truppe, die der Flexibilität und paßgenauen Anforderungen entgegenläuft. Insofern sollte die Meßlatte nicht in reiner Orientierung an den Inputs, sondern besonders an den Outputs, sprich der Leistungsfähigkeit liegen. Kritisch ist die indirekte Forderung der Autoren zu sehen, die Verteidigungsindustrie mit in die ESG-Investitionen (Nachhaltigkeitskriterien) aufzunehmen, um den Zugang zu Kapital zu verbessern. Eine „Heiligsprechung“ würde den Begriff „Environmental, Social and Corporate Governance“ vollständig aushöhlen und den Bock zum Gärtner machen. Die Pointe: 2023 spendete Rheinmetall als Produzent von Panzern, Geschützen und Munition 20.000 Euro für Schulranzen von ukrainischen Kindern.
Mit dem Ziel, die Stückkosten durch höhere Produktionszahlen zu senken, werden auch Exportbeschränkungen in Frage gestellt. Werden hier politisch-humanitäre Absichten ökonomischen Erwägungen geopfert? Die IfW-Studie steht und fällt jedoch mit ihrer Grundannahme: Einer wahrgenommenen Bedrohungslage ist mit Kriegstüchtigkeit, also massiver Aufrüstung zu begegnen. Indem die Autoren eine gegenwartsbezogene Analyse vornehmen, bleibt der Blickwinkel auf die aktuelle völkerrechtswidrige russische Aggression beschränkt.
Nato ist bei den Militärausgaben schon heute haushoch überlegen
Eine ganzheitlichere Betrachtung hätte die Nato-Erweiterung mit 14 neuen Staaten als mögliche Bedrohungslage aus russischer Sicht und die Weigerung einer Verzichtserklärung auf den Beitritt der Ukraine seitens der Nato ansprechen können. Der Mitgliedswunsch eines freien Landes ist die eine Seite, die Weigerung eines Bündnisses zur Aufnahme aus Gründen der (friedlichen) Koexistenz die andere. Wurde die „Friedensdividende“ – Schätzungen für Deutschland gehen von 350 Milliarden Euro aus – damit leichtfertig aufs Spiel gesetzt?
Auch wird dem Status quo unzureichend Rechnung getragen. Der Kriegsverlauf, der Abzug russischer Streitkräfte von der finnischen Grenze und die massiven Verluste an Menschen und Material auf russischer Seite stellen eine vermeintliche Bedrohungslage von Nato-Gebiet zumindest derzeit in Frage. Gleiches gilt für den Rüstungsinput: 2023 betrugen die offiziellen Militärausgaben der USA 916 Milliarden Dollar – in China waren es umgerechnet nur 296 Milliarden Dollar, in Rußland 109 Milliarden, in Großbritannien 75 Milliarden, in Deutschland 67 Milliarden, in der Ukraine 65 Milliarden und in Frankreich 61 Milliarden.
Die Nato-Militärausgaben übersteigen jene Rußlands nominal um mehr als das Zwölffache. Ein Blick auf die Rüstungsspirale des Kalten Krieges zeigt das sogenannte Sicherheitsdilemma. Es ist die paradoxe Situation, in der das Streben nach mehr Sicherheit durch Aufrüstung letztlich zu einer verstärkten politischen Instabilität führt, die in Krieg münden kann. Vielleicht sollte deshalb auch besser von Verteidigungs- statt Kriegstüchtigkeit gesprochen werden. In der aktuellen Situation könnte man daher fordern: Wenn du den Krieg nicht willst, bereite den Frieden (wieder) vor.
Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Kiel Report 1/24: www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kiel-military-procurement-tracker-33233