© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

„Geht weg, flieht so schnell ihr könnt“
Libanon: Ein israelischer Luftangriff tötete den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah / Droht eine erneute Ausreisewelle?
Felix Hagen

Mit ihm endet eine Epoche und mit seinem Tod beginnt für viele Libanesen ein neuer Alptraum. Hinter der südlichen Grenze herrscht hingegen Optimismus, sein Tod wird gefeiert, Politiker kündigen weitere Schläge an. Die Rede ist von Hassan Nasrallah, der mit seiner „Partei Gottes“ (Hisbollah) den Nahen Osten geprägt und dem übermächtigen Nachbarn mehrmals empfindliche Schläge versetzen konnte. Dem Schiiten, der zeitweise selbst bei Sunniten und arabischen Christen Respekt erfuhr, dem islamischen Theologen, dessen enge Beziehungen zur Teheraner Regierung die außenpolitische Kraft der Mullahs multiplizierte und der am Ende über diese enge Einbindung in die iranische Strategie den Respekt und die Anerkennung im Libanon wieder verspielte, die er sich zuletzt im syrischen Bürgerkrieg erworben hatte.

Die Rede ist aber auch von dem Mann, den Israel und seine Verbündeten als Terroristen bezeichnen, dessen Kommandos im Norden Israels Furcht und Schrecken verbreiteten und dessen Raketen und Drohnen den Glauben aufkommen ließen, der Judenstaat sei tatsächlich in seiner Existenz bedroht. In einem Luftschlag vernichtete Israels Luftwaffe am 27. September das Hauptquartier der Parteimiliz und tötete dabei neben Nasrallah nahezu die gesamte Hisbollah-Führungsschicht. So stark waren die Einschläge im Süden Beiruts, daß selbst im christlichen Norden der Stadt die Alarmanlagen geparkter Autos ausgelöst wurden.

Wie viele Menschen mittlerweile innerhalb des Libanon auf der Flucht sind, ist unklar, einige befürchten mindestens eine der über fünf Millionen Einwohner. In den ruhigeren Stadteilen Beiruts, die mehrheitlich von Christen bewohnt werden, sammelten sich nach dem Angriff Tausende Schiiten aus dem Süden. Mangels Notunterkünften versuchten viele auf den Straßen oder in Parks etwas Schlaf zu finden. In einigen Fällen kam es dabei zu spontanen Hilfsaktionen christlicher Anwohner.

Wieviel Kraft bleibt der Schiiten-Miliz zu einem Gegenschlag?

Auch im Norden Libanons, etwa in der Stadt Zgharta öffneten Christen ihre Firmen und Gaststätten als Notunterkünfte. In der Stadt Zahlé im Bekaa-Tal vertrieben hingegen Polizisten der christlichen Stadtverwaltung die Geflüchteten und zerstörten eine aufgebaute Ansammlung von Zelten. Wie so oft im Libanon verläuft auch hier der Konflikt nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Religionsgruppen – die Aufnahmebereitschaft christlicher und drusischer Libanesen hängt zu einem Großteil von der politischen und familiären Ausrichtung ab. In einem Land, in dem neben Religion und Konfession unverändert auch die familiäre Zugehörigkeit über die politische Ausrichtung entscheidet, stellt auch die Bereitschaft zur Nothilfe für vertriebene Landsleute eine potentiell lebensgefährliche Gewissensfrage für die gesamte Familie.

Israel kündigt mittlerweile eine Bodenoffensive im Süden an. Bereits vor dem Angriff auf die Hauptstadt hatten Tausende Libanesen mit der Flucht aus dem Süden des Landes begonnen, koordiniert und teilweise logistisch unterstützt von der Hisbollah, die dort seit dem Ende des Krieges 2006 einen Staat im Staate unterhält. Bisher zehrte die Hisbollah von jenem Krieg, der ihren Nimbus als einzige Kraft im Nahen Osten, die Israel gewachsen ist, zementierte. Nun, nach dem Luftangriff auf Nasrallah und der Explosion Tausender Pager und Funkgeräte, die neben einigen Zivilisten auch fast die gesamte mittlere Hisbollah-Führung außer Gefecht setzte, berichten Flüchtlinge von einer Miliz, die wie ein Schatten ihrer selbst wirkt.

„Geht weg, flieht so schnell ihr könnt“ würden von Haus zu Haus gehende Milizionäre den Anwohnern zurufen, bevor sie sich selbst in unterirdische Bunker und gut getarnte Verstecke zurückziehen. Wieviel Kraft der Hisbollah zum Gegenschlag noch bleibt, ist unklar, die langen Jahre eines relativ bequemen Sitzkriegs dürften die Fähigkeiten zur Camouflage erodiert haben. Denn auch davon berichten viele, die mit der Hisbollah zu tun haben, man habe sich „im Konflikt auf niedriger Intensität eingerichtet“, wie es ein gut vernetzter Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ gegenüber der JUNGEN FREIHEIT schildert.

Friedlich war die Grenze zwischen dem Libanon und Israel seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober nicht mehr, aber beide Seiten übten sich in Zurückhaltung. Immer wieder schickte die Miliz kleinere Drohnen und Raketen über die Grenze in den Norden Israels, verzichtete aber bis auf wenige Ausnahmen darauf, die großen Städte des Landes mit massenhaften Angriffen zu überziehen. Israel antwortete ebenfalls begrenzt und beschränkte sich darauf, die lokalen Angriffe abzufangen. Ein Zustand der auch auf den mäßigenden Einfluß des Iran zurückgeführt wird, ein „Konflikt vor der Zeit“ sei offenbar nicht im Interesse Teherans gewesen.

Viele Libanesen entscheiden sich direkt zur Flucht ins Ausland. Doch die Optionen dafür sind rar: Die Sicherheitslage in Syrien ist weiter angespannt, die Flucht nach Süden verbietet sich ohnehin. Der einzige Ausweg für diejenigen, die es sich leisten können, ist der Flughafen Beiruts. Seit Tagen stauen sich dort bereits die Autos und Minibusse, versuchen Angehörige der Mittel- und Oberschicht verzweifelt ein Ticket zu beschaffen. Eine der wenigen, die es geschafft haben, ist Viktoria S., die aus einer christlichen Oberschichtsfamilie stammt. Bereits vor Monaten hat sie ein Ticket nach Brüssel erworben. Die libanesische Fluggesellschaft MEA stellt üblicherweise als letzte den Betrieb ein und eröffnet ihn auch als erste wieder.

Am Telefon berichtet die junge Frau von verlassenen Autos und verschreckten Flüchtlingen auf den Zufahrtsstraßen zum Flughafen. Das libanesische Mobilfunknetz schwankt, erweist sich aber als erstaunlich robust. Und wenige Stunden nach dem israelischen Luftangriff übermittelt sie dann auch noch die frohe Nachricht an ihren Ehemann in Brüssel, ihr Flugzeug befinde sich bereits im ungarischen Luftraum. Große Erleichterung bei Freunden und Verwandten, doch in die Freude mischt sich die Sorge über die Zurückgebliebenen.

Middle East Airlines – Air Liban (MEA): www.mea.com.lb