© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Grüße aus … Santiago de Cuba
Vorübergehend heißt dauerhaft
Alessandra García

Ariel führt Gewichtstabellen. Diese geben nicht Auskunft darüber, wieviel Lebendgewicht die Schwarze aus Santiago de Cuba auf die Waage bringt, sondern wieviel Gramm die Brötchen wiegen, die sie in der Bodega zugeteilt bekommt. Selten waren es die staatlich vorgeschriebenen 80, meistens nur 60 bis 55 Gramm. In der Bäckerei El Nogal in Vedado, einem Stadtteil von Havanna, wiegen Brötchen nur 40 Gramm. Die KP-Regierung sanktioniert nun diese Reduzierungen, indem sie das „Gewicht des Brotkontingents vorübergehend auf 60 Gramm“ senkt, denn so könne die „Produktion in den kommenden Tagen garantiert und verteilt werden, ohne daß Verbraucher oder vorrangige Einrichtungen wie Schulen und Gesundheitszentren beeinträchtigt würden“, teilte das zuständige Ministerium mit. „Vorübergehend heißt auf Lebenszeit“, weiß Ariel. Leider gebe es auf Kuba nichts Dauerhafteres als das Vorübergehende. Öl und Fleischprodukte sind verschwunden. Salz fehlt auf einer vom Meer umgebenen Insel mit viel Sonne. Zucker ist Mangelware. „Vorübergehend hat meine Tochter seit drei ​​Jahren keinen Joghurt mehr gegessen. Die Zuckerquote und die Eiermenge wurden vorübergehend reduziert, Wasser fließt vorübergehend nicht, der Strom fällt vorübergehend aus, und vorübergehend steigen die Preise.“

„In Kuba gibt es eigentlich genug Mehl, um darin zu ertrinken, aber der Staat hat dennoch keins.“

Etwa 700 Tonnen Weizenmehl benötigt das Elf-Millionen-Einwohner-Land täglich, um den staatlich garantierten Familienkorb mit Brötchen zu füllen. Gemeint sind die bezuschußten Lebensmittel. Da aber insbesondere die US-Farmer nur noch gegen Vorkasse an die Regierung liefern, ist diese gezwungen, Mehl von kubanischen Kleinunternehmern zu erwerben. Diese kaufen Weizen in der Ukraine, Rußland, Spanien, Kolumbien und vor allem in der Türkei ein und haben dank dieser Umtriebigkeit – und weil sie vom US-Embargo nicht betroffen sind – ausreichend Mehl zur Verfügung, das sie an private Bäckereien verkaufen. „In Kuba gibt es genug Mehl, um darin zu ertrinken, aber der Staat hat keins“, berichtet 14ymedio.com, ein Medienportal der kubanischen Bloggerin Yoani Sánchez. Was die Kubaner ebenso auf die Palme bringt, ist der neue Preis für das 60-Gramm-Brötchen: statt bisher ein Peso 75 Centavos. Denn die meisten vermuten, daß die Bäcker kein Wechselgeld herausgeben werden. „Die Menschen werden also weiterhin einen Peso für ein Brötchen bezahlen, was dann aber nur noch 30 oder 40 Gramm wiegen wird“, prophezeit Ariel. Der Zusatzgewinn einer Bäckerei, die 5.000 Stück verkauft, liege dann bei 1.250 Pesos. Ariel hat sich übrigens selbst geholfen: Sie hat gedroht, zur drei Straßenecken entfernten Stadtverwaltung oder zur örtlichen Parteizentrale zu gehen. Seitdem wartet unter dem Ladentisch ihr exakt abgewogenes Brötchen auf sie.