© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Die Mühen der Berge
Wahl in Österreich: FPÖ erstmals vor ÖVP und SPÖ / Schwierige Regierungsbildung erwartet
Robert Willacker

Die SPÖ jubelt. Mit „Andi! Andi!“-Rufen unterstützen Parteigenossen die kämpferische Ansprache ihres Spitzenkandidaten Andreas Babler vor Funktionären am Wahlabend. Ein schneller Blick auf die Szenerie suggeriert: Hier feiert sich der Wahlsieger. Doch die einstige Dauerregierungspartei hat mit vorläufig 21,1 Prozent gerade das schlechteste Ergebnis bei einer Nationalratswahl seit 1945 eingefahren und wird erstmals nur drittstärkste Kraft. Der Beifall für den Linksaußen Andreas Babler ist vor allem eine Trotzreaktion des linken Flügels innerhalb der SPÖ; ein Hinauszögern der politischen Katerstimmung, die in den kommenden Tagen einsetzen wird. 

Seit Jahren kann die österreichische Sozialdemokratie nicht von Fehltritten auf seiten ihrer politischen Mitbewerber profitieren. Die Roten hangeln sich vielmehr von Personaldiskussion zu Parteivorsitzwechseln und wieder zurück. Bereits am Wahlabend steht öffentlich die Frage im Raum, ob der Bürgermeister der 19.000-Einwohner-Gemeinde Traiskirchen südlich von Wien nach nur einem Jahr im Parteivorsitz weiter an der Spitze der SPÖ zu halten sein wird.

ÖVP-Absturz ohne den einstigen Shootingstar Sebastian Kurz

Deutlich fester im Sattel sitzt hingegen der zweite große Verlierer des Abends, ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer. Über elf Prozentpunkte Minus und den Verlust von Platz eins müssen die türkisen Volksparteiler unter seiner Ägide und nach dem Abgang ihres einstigen Shootingstars Sebastian Kurz hinnehmen. Eine Fortführung der Koalition mit den Grünen, die 5,6 Prozentpunkte verloren und mit nur noch 8,2 Prozent Wähleranteil kleinste Fraktion werden, ist damit rechnerisch nicht möglich. In Umfragen waren diese Niederlagen seit mehr als einem Jahr absehbar, die öffentliche Überraschung hielt sich daher in Grenzen.

Der nach wie vor bestehende parteiinterne Rückhalt für Nehammer gründet vor allem darauf, daß die ÖVP trotz des tiefen Falls von 37,5 auf 26,3 Prozent realistische Chancen hat, erneut den Bundeskanzler zu stellen, sollte eine Regierungsbildung durch die erstplazierte FPÖ scheitern. Diese ist gemeinsam mit ihrem Spitzenkandidaten Herbert Kickl der große Gewinner des bundesweiten Urnengangs. Erstmals errang die rechte Partei mit vorläufig 28,9 Prozent den ersten Platz bei einer Nationalratswahl und stellt nun logischerweise den Anspruch auf die Kanzlerschaft.

„Unsere Hand ist ausgestreckt“, sagt Kickl am Abend in Richtung der politischen Mitbewerber, die eine Koalition mit ihm aufgrund seines forschen und kompromißlosen Politikstils bisher ausgeschlossen haben. An dieser Stelle kommt auch der österreichische Bundespräsident ins Spiel: Traditionell betraut dieser den Wahlsieger mit dem Auftrag zur Regierungsbildung. Erst für den Fall, daß der Erstplazierte an einer Mehrheitsbildung scheitert, wird auch offiziell nach anderen Koalitionsoptionen gesucht. Das war 1999 der Fall, als sich die zweitplazierte FPÖ unter Jörg Haider mit der damaligen ÖVP zusammentat: Bundeskanzler wurde allerdings Wolfgang Schüssel von der ÖVP.

Am Wahlabend ließ sich Amtsinhaber Alexander Van der Bellen jedoch noch keine Aussage darüber entlocken, wen er mit der Regierungsbildung beauftragen wird, und kündigte für die kommende Woche Gespräche mit allen Parteien an. Dies stellt einen radikalen Abgang von demokratischen Usancen der Zweiten Republik dar, was von neutralen politischen Beobachtern zwar als verfassungsrechtlich haltbar, jedoch als demokratiepolitisch problematisch eingeschätzt wird. Van der Bellen war jahrzehntelang für die Grünen im Nationalrat tätig und auch langjähriger Parteivorsitzender. Seine Ablehnung des Rechtspolitikers Herbert Kickl dürfte daher vor allem ideologische Gründe haben.

Kommt am Ende eine Koalition der Wahlverlierer von ÖVP und SPÖ?

Noch eine weitere Frage ist derzeit ungeklärt, nämlich die Besetzung des Amts des Ersten Nationalratspräsidenten. Traditionell stellt hier die stimmenstärkste Partei den Amtsinhaber, doch auch dort zögern die politischen Mitbewerber davor, die Geschicke des Hohen Hauses – so der Name des österreichischen Parlaments – der FPÖ zu überlassen. Olga Voglauer, Kärtner Landwirtin und Generalsekretärin der Grünen, warb in der Nachwahlrunde des ORF schon energisch dafür, der FPÖ den Ersten Nationalratspräsidenten zu verweigern. Das klang bei ihr nach der „Anti-AfD-Einheitsfront“, die aus Thüringen und dem Deutschen Bundestag bekannt ist. Ob ÖVP und SPÖ da mitmachen, ist aber nicht sicher, denn bei einer solchen Vorgehensweise könnte es in einigen Jahren auch sie selbst treffen, sollten sich die Mehrheitsverhältnisse weiter zu ihren Ungusten entwickeln.

Es ist somit nicht unwahrscheinlich, daß sich am Ende eine „Koalition der Wahlverlierer“ von ÖVP und SPÖ mit den woke-wirtschaftsliberalen Neos bildet. Letztere konnten sich leicht auf 9,1 Prozent verbessern und könnten damit der Ein-Mandat-Mehrheit von ÖVP und SPÖ zu mehr Stabilität verhelfen. Die gemeinsame inhaltliche Klammer dieser drei Parteien wäre dann die Verhinderung des Wahlsiegers Kickl als Kanzler. Es ist jedoch fraglich, ob das ausreicht, um die zu erwartenden Unwegsamkeiten einer Dreier-Koalition auf Jahre hinaus zu überwinden.

In Österreich schaut man diesbezüglich sehr genau nach Deutschland: Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP gilt österreichischen Politikkennern aller Lager eher als abschreckendes Beispiel für eine solche Kooperation. Zum jetzigen Zeitpunkt steht also erst eines fest: Österreich stehen zähe Wochen bevor.

www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Nationalratswahl_2024/start.aspx

Kommentar Seite 2, Grafiken siehe PDF