Das Internet vergißt nicht. Und so findet sich in den Weiten des Worldwideweb auch noch eine Pressemitteilung der thüringischen CDU-Landtagsfraktion aus dem November 2018. Darin beschwert sich der seinerzeitige Fraktionsvorsitzende Mike Mohring über einen „Vorgang, der gegen alle parlamentarischen Gepflogenheiten verstößt“. Hintergrund war die Nicht-Wahl des Kandidaten der CDU für das Amt des Landtagspräsidenten; der war an den Nein-Stimmen von Linkspartei, SPD und Grünen gescheitert. „Das Vorschlagsrecht“, empörte sich Mohring, liege bei der stärksten Landtagsfraktion, also seiner CDU. „Gemeinhin akzeptierter Brauch in allen Parlamenten ist, daß der vorgeschlagene Kandidat auch gewählt wird.“
Mit Blick auf die turbulente Eröffnungssitzung des neuen Thüringer Landtags Ende vergangener Woche sind diese markigen Worte schlecht gealtert. Einschränkend sei erwähnt, daß der längst entmachtete Mohring gar nicht mehr kandidiert hatte und daher auch kein Mitglied des Landtags ist. Doch seine Parteifreunde dürfen sich angesichts ihres aktuellen Abstimmungsverhaltens nun an die eigene Nase fassen.
Permanente Unterbrechungen, wütendes Geschrei, Rufe nach einem neuen Sitzungsleiter – und schließlich eine Vertagung samt Anrufung des Verfassungsgerichtshofs in Weimar. So läßt sich Teil eins der konstituierenden Sitzung des Erfurter Landesparlaments zusammenfassen. Von „Kindergarten“ bis „Trauerspiel“ reichten die Bewertungen. Erfolgreich hatten sich beide Seiten, die AfD auf der einen, alle übrigen Fraktionen auf der anderen, blockiert. Die AfD mit der (begrenzten) Macht des Alterspräsidenten Jürgen Treutler, die anderen mit ihrer Mehrheit. Treutler beharrte auf der bisher gültigen und noch nicht geänderten Geschäfts- und Tagesordnung, die anderen auf dem Recht des neuen Landtags, diese als erstes ändern zu dürfen.
Alterspräsident kritisiert die „Verachtung des Volkes“
Nach der geltenden Geschäftsordnung müsse erst eine Landtagspräsidentin oder ein -präsident gewählt werden, und dieses Amt stehe von jeher der stärksten Fraktion zu, meinte der Alterspräsident – in Übereinstimmung mit dem CDU-Fraktionsvorsitzenden des Jahres 2018. Das sahen die aktuellen Christdemokraten in Erfurt anders. Und mit ihnen die übrigen Fraktionen von BSW, Linkspartei und SPD. Die Verfassungsrichter stimmten dem in ihrem Urteil zu. Das Recht der Abgeordneten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, habe ein höheres Gewicht als die Einhaltung der bisherigen Geschäftsordnung. Wenig überraschend, da das Bundesverfassungsgericht in ähnlichen Streitfragen zwischen AfD und Bundestag ebenso entschieden hat.
Schon mit seiner Eröffnungsrede hatte sich Alterspräsident Treutler den Unmut von Abgeordneten anderer Fraktionen zugezogen, die ihm mangelnde Überparteilichkeit vorwarfen. Denn er lobte die hohe Wahlbeteiligung und kritisierte jene Kommentare in den Medien, die in diesem Ergebnis der Wahl nichts Positives sehen wollten. Daraus, so der Alterspräsident, spreche eine „Verachtung des Volkes“. Vielmehr sei der Wille der Wähler mit dem Ergebnis vom 1. September zum Ausdruck gekommen. Dieses Ergebnis sei nicht nur ein mathematisches, sondern vor allem ein politisches, betonte Treutler.
Nach zweitägiger Unterbrechung und dem Urteil aus Weimar mußte er dann ermöglichen, was CDU und BSW mit ihrem Geschäftsordnungsantrag bezweckt hatten: daß bereits im ersten Wahlgang nicht nur der stärksten Fraktion das Vorschlagsrecht für den Parlamentspräsidenten zusteht, sondern auch alle anderen Fraktionen einen Kandidaten benennen dürfen. Gewählt wurde schließlich der als Konsenskandidat gegen die AfD ins Rennen geschicke Thadäus König. Der 42jährige CDU-Politiker stammt aus dem sehr katholisch geprägten Eichsfeld, einer traditionell „schwarzen“ Hochburg, und hatte landesweit das beste Erststimmenergebnis eingefahren. Die von der AfD für den Posten nominierte Landtagsabgeordnete Wiebke Muhsal fiel erwartungsgemäß durch – auch als sie für das Amt der Vizepräsidenten antrat. Die 38jährige Juristin hatte am 1. September in ihrem Wahlkreis das Direktmandat gegen den CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzenden Mario Voigt geholt. Doch Vertreter anderer Fraktionen hatten die Kandidatur Muhsals für den Posten an der Spitze des Landtags als „Provokation“ bezeichnet. Die Abgeordnete, die dem Parlament bereits von 2014 bis 2019 angehörte, war damals zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie den Arbeitsvertrag mit einer Mitarbeiterin um zwei Monate vordatiert hatte, um zusätzliches Geld von der Landtagsverwaltung zu erhalten.
Unterdessen hat die CDU bekräftigt, der AfD stehe im Thüringer Landtag grundsätzlich ein Vizepräsidentenposten zu. „Das Angebot steht“, so CDU-Fraktionschef Mario Voigt.