© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Einstieg in den Ausstieg
Koalition: Nach den verheerenden Landtagswahlergebnissen kursieren diverse Szenarien für ein vorzeitiges Aus der Ampel
Paul Rosen

Noch nie war eine Koalition in Deutschland so unbeliebt wie die Ampel. Nach vernichtenden Wahlniederlagen sollen jetzt mehr Grenzkontrollen und Abschiebungen her; Subventionen für die Industrie wird es geben. Ansonsten wird auf das grüne Wirtschaftswunder gewartet und auf ein Schweigen der Waffen in der Ukraine gehofft: So meint die Regierung der größten Volkswirtschaft in Europa, durch die nächsten zwölf Monate bis zur Bundestagswahl zu kommen. Mehr noch: Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), vermutlich auch Finanzminister Christian Lindner (FDP), träumen vom Wahlsieg. Das wird nicht passieren.

Mehrere Varianten werden derzeit in Berlin durchgespielt. Eine lautet, daß die SPD mit Scholz an der Spitze in den Bundestagswahlkampf ziehen wird. Bei unveränderten Rahmenbedingungen würde die SPD vielleicht bei 15 Prozent landen, die Grünen bei zwölf, und die FDP würde aus dem Bundestag fliegen. Die Union würde über 30 Prozent erzielen. Eine Neuauflage der Großen Koalition mit der SPD wäre die Folge; die Unions-Brandmauer verhindert jede Einbeziehung der auf 17 bis 19 Prozent taxierten AfD. Ein Bündnis mit den Grünen hat CDU-Chef Friedrich Merz „aus heutiger Sicht“ ausgeschlossen. Dieses Szenario mit Scholz ist schon deshalb sehr unwahrscheinlich, weil sich die SPD-Bundestagsfraktion von 207 auf etwa hundert Abgeordnete mehr als halbieren würde; zumal der nächste Bundestag ohnehin von 736 auf 630 Sitze verkleinert wird.  

Oberstes politisches Prinzip eines Abgeordneten ist die Sicherung seiner Wiederwahl. Der Sessel im Reichstag ist bequem, die Diäten sind hoch, es gibt schöne Reisen und eine fette Pension. Wegen der Sorgen, nicht wiedergewählt zu werden, brennt derzeit in der SPD-Fraktion die Luft. Genauso brennt es bei der FDP. „Entweder, es gelingt uns in den nächsten 14 Tagen, drei Wochen, hier tatsächlich einen vernünftigen gemeinsamen Nenner zu finden oder es macht für die Freien Demokraten keinen Sinn mehr, an dieser Koalition weiter mitzuwirken“, erklärte der liberale Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki nach den vernichtenden Niederlagen bei drei Landtagswahlen. In der FDP-Fraktion wird überlegt, die Ampel vorzeitig zu verlassen. Anlässe gibt es: Die Rentenreform mit hohen Beitragssteigerungen wird von den Liberalen nicht mehr mitgetragen. Und sollte das Verfassungsgericht im November den Solidaritätszuschlag kippen, würden Lindner 13 Milliarden Euro fehlen; eine Schließung dieses Lochs wäre kaum möglich. Schon spottet Merz, wenn die FDP in der Koalition bleibe, begehe sie „organisierten Selbstmord“. Ob die FDP überlebt, wenn sie die Regierung verläßt, ist aber ebenso ungewiß, auch wenn Lindner von einem „Herbst der Entscheidungen“ spricht.  

Falls Lindner den Ampel-Exit jedoch vollziehen sollte, könnte Scholz mit den Grünen als Minderheitsregierung eine Zeitlang weitermachen – ähnlich wie Helmut Schmidt (SPD) 1982 in den letzten Wochen seiner Regierungszeit, nachdem die FDP-Minister zurückgetreten waren. Ein konstruktives Mißtrauensvotum von Merz und der Union wie 1982, als Helmut Kohl damit ins Kanzleramt kam, ist auszuschließen: Merz würde sich nie mit AfD-Stimmen zum Kanzler wählen lassen. Die Jamaika-Variante (Union, Grüne, FDP) ist ebenfalls unwahrscheinlich. Merz hat ein Bündnis mit den Grünen derzeit ausgeschlossen: Es gebe im demokratischen Spektrum im Augenblick keine Partei, die bei CDU-Wählern und -Mitgliedern „eine solche Aversion auslöst wie die Partei der Grünen“.

Bei denen wiederum sammelt Wirtschaftsminister Robert Habeck nach dem vergangene Woche angekündigten Rückzug der beiden Parteichefs Ricarda Lang und Omid Nouripour die nach den Niederlagen zersprengten Truppen und will sich als Kanzlerkandidat präsentieren. Doch mehr als ihre Stammklientel, die bürgerlichen wohlhabenden Stadtbewohner, erreichen die Grünen nicht mehr. Zu groß ist die Wut über Heizungs- und Autoverbote in der Bevölkerung, die zu 70 Prozent auf dem Land wohnt, wo keine U-Bahn fährt und der Bus alle zwei Stunden. Verkehrs- und Energiewende gelten hier als Schimpfwörter.

Fraktion könnte Scholz zur Vertrauensfrage zwingen

Es wird vor dem Hintergrund der Umfragen oft übersehen, daß die SPD im derzeitigen Bundestag die größte Gestaltungsmacht hat. Mit Scholz wäre zwar die nächste Wahl verloren. Aber es gibt noch Optionen. Sollte etwa die FDP die Regierung verlassen, könnte die SPD-Fraktion Scholz zur Vertrauensfrage zwingen. Würde er – erwartungsgemäß – das Vertrauen nicht erhalten, könnte es Neuwahlen geben, aber dann nicht mehr mit Scholz, sondern mit Verteidigungsminister Boris Pistorius als Kanzlerkandidat. Kommt es nicht zu diesem Szenario, weil die FDP nicht springt, könnte die SPD-Fraktion Scholz zum Rücktritt oder zum Verzicht auf eine erneute Kandidatur zwingen. Pistorius würde übernehmen. Den Termin könnte die SPD nach Belieben wählen. Als beliebtester Politiker Deutschlands hätte der Niedersachse das Format, den SPD-Wert wieder auf mindestens 20 Prozent – vermutlich zu Lasten der Union – zu heben.

Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) rief am vergangenen Wochenende beim Parteitag der nordrhein-westfälischen CDU, im Saal seien „alle glücklich“. Das kann sich schnell wieder ändern.