© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

„Bürger würden uns die Freundschaft kündigen“
Brandbrief: Baden-Württembergs Kommunen schlagen Alarm, weil sie immer mehr Aufgaben bewältigen müssen – und das Geld dafür fehlt
Paul Leonhard

Die Kommunen proben den Aufstand. Der Städtetag Baden-Württemberg hat den Alltagsfrust der 600 Bürgermeister aus rund 200 Städten und Gemeinden in einer nach dem Tagungsort benannten „Freiburger Erklärung“ zusammengefaßt. Das Besondere daran: Es werden nicht nur die Probleme benannt und die Regierenden in Berlin und Stuttgart kritisiert, sondern auch konkrete Lösungen formuliert.

Es geht um die explodierenden Kosten für Nahverkehr, Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder und Migranten, um die Verödung der Innenstädte und immer neue Belastungen der Kommunen durch von Bund und Land verabschiedete Gesetze. Die Bürgermeister sehen finanziell kein Land mehr. „Über 60 Prozent der Kommunen, über 80 Prozent der Landkreise kriegen keinen ausgeglichenen Haushalt hin – mit steigender Tendenz“, konstatiert Frank Mentrup (SPD), Präsident des Städtetags und Oberbürgermeister von Karlsruhe: „So etwas gab es in Baden-Württemberg noch nie.“

„Den Menschen sagen, was noch möglich ist“

Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung fehlen in Baden-Württemberg rund 60.000 Kitaplätze. Um die Nachfrage decken zu können, würden bis 2025 rund 14.800 zusätzliche Erzieher benötigt. Eine der Forderungen der Bürgermeister ist es, den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz zu überdenken. Eine zeitliche Einschränkung schlägt Sozialdezernent Benjamin Lachat vor: Statt zahlreicher Kinder ohne Betreuung sei es besser, allen Kindern einen Kita-Platz mit einer begrenzten Stundenzahl anzubieten.

Andere Forderungen des Städtetags sind altbekannt: „Wir müssen die Bürokratie abbauen, wir müssen die Standards abbauen, wir brauchen mehr Flexibilität“, hieß es vom Städtetag Baden-Württembergs bereits im Januar 2023: „Für die gesetzlichen Aufgaben der Kommunen fehlt derzeit ein Betrag von rund 1,9 Milliarden Euro jährlich“, konstatierte seinerzeit Städtetags-Geschäftsführer Ralf Broß. So stellte die Landesregierung den Kommunen 2023 lediglich 530 Millionen für die Unterbringung und Integration der ihnen zwangszugewiesenen Migranten zur Verfügung. Auch die 100 Millionen Euro für den Einstieg in die Finanzierung des Ganztagsanspruchs in der Grundschule werden bei weitem nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken.

Würden die Kommunen den selben Politikstil wie in Berlin und Stuttgart pflegen, „würden die Bürger uns die Freundschaft kündigen“, sagte Städtetagspräsident Mentrup und forderte von Bund und Land „mehr Mut zu Entscheidungen“ und einen „neuen Pakt der Verantwortlichkeit“. Und man müsse den Menschen sagen, „was noch möglich ist“. Innenminister Thomas Strobl (CDU) reagierte auf die „Freiburger Erklärung“ im gewohnten Stil: Das Land wolle den Städten und Gemeinden „den Rücken bestmöglich stärken und ihnen Rückenwind geben“.