Die Zahlen sind eindeutig: Seit den Terroranschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden militärischen Gegenschlägen im Gazastreifen und im Libanon hat sich die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland nahezu verdoppelt: Die Behörden registrierten im vergangenen Jahr 5.164 antisemitische Straftaten und damit 95,5 Prozent mehr als noch 2022. Unter den erfaßten Straftaten waren der Statistik zufolge 148 antisemitische Gewaltdelikte, davon 91 Körperverletzungen.
Knapp 53 Prozent aller antisemitischen Straftaten, die im vergangenen Jahr in Deutschland gemeldet wurden, entfielen auf den Zeitraum nach dem 7. Oktober. In den ersten beiden Quartalen dieses Jahres wurden bislang 1.508 antisemitische Straftaten registriert, darunter 33 Gewalttaten. Das geht aus den Antworten der Bundesregierung auf entsprechende Kleine Anfragen der Linkspartei im Bundestag hervor.
Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hatte bereits nach dem starken Anstieg der Übergriffe im vergangenen Jahr alarmiert reagiert und ein „Aufwachen“ gefordert. „Die Tatsache, daß Juden Angst haben, mit einer Kippa auf die Straße zu gehen oder auf hebräisch in ihre Handys zu sprechen, das kann einfach nicht sein“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. „Leute, die Angst haben, ihre Kinder in die Schule zu bringen, wenn die Schule nicht geschützt wird: Das sind Verhältnisse, die nicht normal sind.“
Die massive Zunahme der antisemitischen Straftaten sowie die Bilder von aufgeheizten propalästinensischen Demonstrationen in zahlreichen deutschen Städten, aber auch antisemitische Blockade- und Protestaktionen an Universitäten haben Politik und Öffentlichkeit aufgeschreckt.
Daß sich die Situation auch fast ein Jahr nach dem 7. Oktober nicht beruhigt hat, sondern sich angesichts des anhaltenden Konfliktes im Nahen Osten weiter verschärft, zeigte sich am Freitag vergangener Woche in Berlin. Aus einer Ansammlung von mehreren Dutzend junger Menschen in Berlin-Kreuzberg, die unter anderem propalästinensische Parolen riefen, kam es nach Angaben der Polizei zu einem Angriff auf einen Streifenwagen, in dem zwei Polizisten saßen. Die Täter bewarfen demnach den Polizeiwagen mit Gegenständen. Dabei ging eine Scheibe zu Bruch und eine weitere Scheibe splitterte. Die beiden Beamten konnten sich aus dem Auto retten und blieben unverletzt. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) verurteilte den Angriff scharf: „Wir sehen eine wachsende Bereitschaft aus der propalästinensischen Community und ein anhaltendes Personenpotential, Berlin in Schutt und Asche zu legen sowie Polizisten mit körperlicher Gewalt, Steinen und Pyro massiv zu verletzen.“
Die Tatsache, daß die Teilnehmer der häufig äußerst aggressiven Demonstrationen zumeist aus dem migrantischen Milieu stammen, führte schnell zum Ruf nach politischen Konsequenzen, bis hin zur Forderung aus der SPD, eingebürgerten Antisemiten den deutschen Paß bis zu zehn Jahre rückwirkend wieder zu entziehen.
Konkret schlug sich der wachsende Antisemitismus in der Neufassung des Staatsangehörigkeitsrechts durch die Ampel nieder, das im Juni in Kraft getreten ist. Ausländer, die sich einbürgern lassen wollen, müssen sich demnach künftig auch zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihre Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens, bekennen. „Ein unrichtiges Bekenntnis schließt jede Einbürgerung strikt aus“, machte das Bundesinnenministerium deutlich. Zudem wurde der obligatorische Einbürgerungstest erweitert und der entsprechende Fragenkatalog um neue Prüfungsfragen zu den Themen Antisemitismus, Existenzrecht Israels und jüdisches Leben in Deutschland ergänzt.
Bereits kurz nach den ersten Demonstrationen, die mit Blick auf den Überfall auf Israel am 7. Oktober zunächst teilweise den Charakter von Jubelveranstaltungen hatten, hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Anfang November 2023 die Betätigung der Hamas und des Vereins „Samidoun – Palestinian Solidarity Network“, der als ein maßgeblicher Treiber bei der Organisation antiisraelischer Demonstrationen galt, in Deutschland verboten. „Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz – egal von wem er ausgeht. Wir werden ihn in all seinen Formen mit der ganzen Härte des Rechtstaats auch weiterhin bekämpfen“, sagte Faeser zur Begründung. Kritiker hielten ihr vor, daß das Verbot dieser beiden Organisationen, die eine wichtige Rolle bei der Vernetzung innerhalb der antiisraelischen und propalästinensischen Szene gespielt haben, auch vor dem Terrorangriff der Hamas bereits überfällig gewesen sei.
Rechtliche Lage nicht immer eindeutig
Nicht immer in diesem auch auf deutschen Straßen ausgetragenen Konflikt ist die rechtliche Lage eindeutig. Das gilt insbesondere für die in propalästinensischen Kreisen weit verbreitete Parole: „From the river to the sea, Palestine will be free“. Die deutschen Sicherheitsbehörden werten diesen Slogen vielfach als gegen das Existenzrecht Israels gerichtet beziehungsweise schreiben ihn der verbotenen Terrororganisation Hamas zu und ziehen seine Verwendung als Grund für das Auflösen von Versammlungen heran. Dieser Auslegung hat indes das Landgericht Mannheim Mitte Juni in einem Urteil widersprochen. Aus Sicht des Gerichts bleibe der Ausspruch „allgemein gehalten“ und habe eine komplexe Geschichte. Es lasse sich aus ihm nicht entnehmen, auf welche Weise das historische Palästina befreit werden solle. Mit anderen Worten: Es muß nicht die Vernichtung Israels gemeint sein, sondern der Slogan kann auch als Forderung nach einem Ende der israelischen Besatzung verstanden werden.
In Berlin entwickelten sich die Universitäten nach dem 7. Oktober schnell zu einem Schwerpunkt der Auseinandersetzungen. Negativer Höhepunkt war im Februar der Angriff auf einen jüdischen Studenten, bei dem dieser schwer verletzt wurde. Hintergrund der Tat war offenbar der Nahostkonflikt. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sprach auf X von einem „niederträchtigen Angriff“ und fügte hinzu: „Jüdische Menschen müssen sich in Berlin überall sicher fühlen – auch an unseren Universitäten!“
Mehrfach war es an der Berliner Humboldt-Universität und an der Freien Universität zudem zu Blockadeaktionen und Besetzungen gekommen, bei denen die Universitätsleitungen teilweise äußerst unglücklich agiert hatten. So hatte sich HU-Präsidentin Julia von Blumenthal im Mai zunächst geweigert, das von propalästinensischen Demonstranten besetzte Institut für Sozialwissenschaften räumen zu lassen. Erst auf Druck des Berliner Senates wurde die Einrichtung schließlich geräumt.