© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Die Zeitreise verläuft immer schneller
Der Journalist Andrian Kreye legt eine Geschichte der Menschheit im digitalen Universum vor
Felix Dirsch

Man kennt das Gefühl von einigen Fahrgeschäften auf dem Volksfest: Die Gefährte starten langsam, werden aber bald immer schneller und schneller. So verhält es sich nach Auskunft ihrer Biographen mit der digitalen Revolution. Sie verändert vor unseren Augen die grundlegenden Bedingungen aller Lebewesen, nicht nur des Menschen, in einer Weise und Rasanz, wie man es in der Menschheitsgeschichte noch nicht erlebt hat.

Der leitende Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Andrian Kreye, beschreibt die Transformation – zentral geht es um die Entwicklung von Internet und Künstlicher Intelligenz – als einen Prozeß, den er an verschiedenen Stellen mit seinem Lebenslauf in Verbindung bringt. Man erkennt an einem solchen Duktus, daß die Schrift nicht in erster Linie wissenschaftlich-systematisch angelegt ist. Das kybernetische Zeitalter erlebte schon in den 1940er und 1950er Jahren wichtige Vorläufer, nachdem die mathematischen Hintergründe und Voraussetzungen – vor allem das duale Rechenprinzip – wesentlich weiter zurückreichen.

Kreye, der sich für diese frühen Abschnitte nicht interessiert, schildert den technischen Umbruch (parallel zum politischen) seit den späten 1980er Jahren: Die verbreitete Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ schuf weit über die Forschungslaboratorien im Silicon Valley, in Genf, in Cambridge und anderswo eine euphorische Aufbruchsstimmung. Die Technik mit ihrem verbreiteten Hang zur Neutralität in politisch-moralischen Angelegenheiten, ihre vielfältige Anwendbarkeit und ihre Neigung zur nüchternen Problemlösung schien die wirkliche Alternative zu allerlei Formen politsch-ideologischer Zwangsherrschaft. Ökonomie und Kommunikationssektor gingen und gehen immer engere Verbindungen ein.

Entscheidend waren dabei nicht einzelne Güter, mit denen gehandelt wurde. Jeff Bezos hatte zu Büchern keinen besonderen Bezug, als er den Internetgiganten Amazon gründete. Er erkannte aber wohl ihren Charakter als wirtschaftliches Zugpferd. Das Wachstum nahm weltweit schnell zu. Immer mehr Bereiche des Word Wide Web wurden erschlossen, so vor 20 Jahren der Sektor der sozialen Medien, was gemeinhin als „Quantensprung“ gilt. Heute sind wir auf dem Sprung zum Web 3.0, dem Metaverse.

Der Autor vergegenwärtigt sich die Entwicklung der Digitalisierung mit Hilfe einiger kompetenter Interviewpartner, darunter der US-Politiker Al Gore, der Computer-Netzwerker John Brockman und der deutsche KI-Pionier Jürgen Schmidhuber, dessen Antworten zum Mensch-Maschine-Problem dem Leser am deutlichsten zeigten, an welcher Stelle die Menschheit derzeit steht. Geschildert werden weiterhin die jüngsten Abschnitte in der Historie des digitalen Universums. Dazu zählt der medial viel beachtete Sieg des Google-Algorithmus AlphaGo 2016 gegen den seinerzeit weltbesten Go-Spieler Lee Sedol. Dieser Erfolg brachte zahllose neue Debatten über die Entthronung des Menschen infolge der raschen KI-Fortschritte hervor, die in erster Linie auf die Zunahme der Datenmenge im Internet zurückzuführen sind. 

Als eine neue Etappe betrachten viele Fachleute die gehypte Sprachsoftware ChatGTP, die binnen kurzer Zeit noch leistungsfähigere Nachfolger gefunden hat. Schon Jahre vor dieser Innovation wurde gern darauf verwiesen, daß maschinell generierte Informationen immer weniger von menschengemachten zu unterscheiden seien.

Kreye, dessen Hang zum linksliberalen Haltungsjournalismus dem Leser nicht verborgen bleibt, hat einen Überblick vorgelegt, der ihn als fundierten Chronisten der großen Transformation ausweist. Am Ende der Darstellung stellt der Autor in aller Deutlichkeit die existentielle Dimension des Umbruches heraus: nämlich die Gefährdung der Einzigartigkeit des Menschen. Deren Bewahrung ist die zentrale Leitplanke der Zukunft.


Andrian Kreye: Der Geist aus der Maschine. Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums. Heyne Verlag, München 2024, gebunden, 368 Seiten, 24 Euro