Wer die Lage in Deutschland verfolgt, kennt das Gefühl, daß sich der Lachreiz in Ernst verwandelt, bevor er das Zwerchfell erschüttern kann. Gab es jemals zuvor eine Regierung, die zwecks globaler Weltgenesung die industriellen Grundlagen des eigenen Landes zerstört hat? Ein gutes Jahrhundert ist es her, daß Lenin die Parole ausgab: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Für das heutige Deutschland lautet die Devise: „Ökosozialismus – das ist Rot-Grün plus Deindustrialisierung“, denn Weltverbesserer verrichten ihr hochmoralisches Werk. Gut, wenn dagegen ein Buch erscheint, das mit ausgewogenem Sachverstand die Lage bewerten hilft. „Die Moralapostel. Zerstörung eines Exportweltmeisters“ heißt das Buch von Fritz Söllner, Professor für Volks- und Finanzwirtschaft an der TU Ilmenau und Mitglied der Hayek-Gesellschaft.
Statt einstiger Exportweltmeisterschaft folgt die ergrünte Berliner Republik einem Drang zur Moralweltmeisterschaft. So beschreibt Söllner gleich eingangs seines Buches das Phänomen des „politischen Moralismus“ (Hermann Lübbe): Eine Politik ideeller Werte, die ohne jede Orientierung an Kosten und Nutzen irrational über die Bürger hinweg betrieben wird. Mit politischem Personal, das vor lauter Gesinnungsethik bar jeder Vernunft geworden ist. Ihrem Moralismus wohnt eine Tendenz zum Totalitarismus inne, denn für korrekte Erweckte kann der Andersdenkende niemand anderes sein als der Erzteufel, der sein Höllenfeuer zum Klimawandel beitragen möchte.
Und weil die Moralapostel zu wissen glauben, wie man die Wärmepumpe des Weltklimas konstant auf 12 Grad Pariser Durchschnittstemperatur halten kann, predigen sie den Green Deal der EU samt Energieeffizienzgesetz, Lieferkettenrichtlinie, Emissionshandelssystemen und sonstigen Rechtsvorschriften, die längst keine Appelle oder Anreize mehr sind, sondern Erlasse, deren Nichtbefolgung unter Strafe steht. Der Deutsche zückt brav seine Geldbörse, damit nicht erzeugter Strom aus nicht vorhandenem Wasserstoff durch inexistente Netze in fehlende Akkus fließt. Und während Betriebe ihre Produktion aus Deutschland abziehen, verspricht der Kanzler ein grünes Wirtschaftswunder. Das aber kommt nur bei Solarherstellern in China und Flüssiggasproduzenten in den USA an.
Moralismus kann sich kaum selbst von seiner Verstiegenheit heilen
Gleichzeitig – Söllner beschreibt sehr faktenreich den Missionseifer deutscher Institutionen bei UN und EU – widmet sich die Regierung einer feministischen Klimaaußenpolitik. Unversehens ist das Auswärtige Amt ein Ministerium für Fauxpas-Diplomatie, das mit Kriegserklärungen an den Kreml und Einreisefreiheit für Islamisten einen Platz an der Sonne der Moral sucht. Immer weniger wird diese Hippie-Politik international noch ernst genommen, immer geringer wird der außenpolitische Handlungsspielraum Deutschlands.
Neben Klimapolitik und Migrationspolitik ist der deutsche Anteil an der Nato-Politik gegen Rußland der dritte Praxistest, bei dem der Moralismus über die eigenen Ansprüche strauchelt. Tatsächlich stellt der Russisch-Ukrainische Krieg den Prüfstein dar für jene Transformationspolitik, die den gleichzeitigen Ausstieg aus Kernenergie, Kohlestrom und russischem Erdgas forcierte. Stumm sah Deutschland als Vasall der USA dabei zu, wie das Methan aus der gesprengten Nordstream-Pipeline sprudelte. Kein Wunder, daß der erste Verlierer des Krieges bereits feststeht. Söllner verweist auf offizielle Zahlen, nach denen der deutschen Volkswirtschaft durch den Krieg und durch die gegen Rußland gerichteten Wirtschaftssanktionen im Jahre 2022 etwa 120 Milliarden Euro an Wertschöpfung verlorengingen, im Jahre 2023 noch einmal 175 Milliarden. Hinzu kamen bis Anfang 2024 weitere 64 Milliarden Euro, die aus deutschen Kassen an die Ukraine und deren Staatsbürger flossen. Davon rund ein Drittel direkt (militärisch, humanitär, finanziell), ein weiteres Drittel als deutscher Anteil an EU-Geldern, noch einmal ein Drittel für die Versorgung der nach Deutschland gelangten Ukrainer, etwa mit „Bürgergeld“. Die zukünftigen Kosten für eine angedachte EU-Mitgliedschaft der Ukraine sind noch gar nicht mitgerechnet. Wie die Haushaltsstreitigkeiten der rot-gelb-grünen Koalition zeigen, ist das Ende der Ampelstange erreicht.
Wie aber weiter? Moralismus kann sich nur schwer selbst von seiner Verstiegenheit heilen. Es sei daher zu erwarten, schreibt Söllner zusammenfassend, „daß die Wertepolitik nicht etwa aufgrund ihres bisherigen Scheiterns überdacht oder vielleicht sogar aufgegeben wird, sondern daß sie vielmehr intensiviert und ausgeweitet wird – und daß die Kosten und Schäden, die eine solche Politik anrichtet, immer höher werden. Das Ende der Moralisierungsspirale wird erst dann erreicht werden, wenn diese Kosten und Schäden ein solches Ausmaß annehmen, daß die eigene Bevölkerung nicht länger bereit ist, sie um eines Gefühls der moralischen Überlegenheit willen in Kauf zu nehmen.“ Dieser Punkt, und das zeigen die Umfragen der Wahlforscher, rückt in greifbare Nähe.
Fritz Söllner: Die Moralapostel. Zerstörung eines Exportweltmeisters. Verlag Langen Müller, München 2024, gebunden, 248 Seiten, 26 Euro
Foto: Statt auf russisches Erdgas wird nun auf teures Flüssiggas gesetzt, LNG-Tanker 2003 am neuen Anleger in Wilhelmshaven 2023: Deutschland als erster Verlierer des Ukraine-Krieges