© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Aus Neuer Wehrmacht wurde Bundeswehr
Der 3. Oktober 1954 ist das Dreh- und Angeldatum der bundesdeutschen Wiederbewaffnung: Auf der Londoner Neun-Mächte-Konferenz wurden die Weichen für den Beitritt zum Nordatlantischen Verteidigungsbündnis und der Gründung der Bundeswehr gelegt
Josef Kraus

Die Bundeswehr wird am 12. November 2025 ihren 70. Geburtstag feiern. Damals, am 12. November 1955, erhielten die ersten 101 Freiwilligen in Bonn ihre Ernennungsurkunden. Der Tag war gewählt worden, weil es der 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers Gerhard Johann David von Scharnhorst war. 

Die Fixierung des Geburtstags der Bundeswehr auf den 12. November läßt zu leicht vergessen, daß es wohl wichtigere Daten gibt, die als Geburtsstunde, zumindest als Grundsteinlegung der Bundeswehr gelten können. Der 3. Oktober 1954  ist ein solches Datum. An diesem Tag endete die „Londoner Neun-Mächte-Konferenz“. Die „neun Mächte“ Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Großbritannien und USA erklärten dort die Bundesrepublik zum souveränen Staat. Wobei es übrigens bis 1990 eine Teilsouveränität blieb. 

Dem 3. Oktober 1954 waren gewaltige weltgeschichtliche Ereignisse und kluge Schachzüge des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) vorangegangen. Die vier Siegermächte hatten sich verfeindet: drei Westmächte versus Stalins Sowjetunion. Vom Mai 1948 bis Mai 1949 hatte es die Berlin-Blockade und die „Luftbrücke“ der Westalliierten gegeben. Am 25. Juli 1950 hatte das kommunistische Nordkorea Südkorea überfallen. Am 10. März 1952 hatte Stalin in einer Note Verhandlungen über eine Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands angeboten. Die Westalliierten und Adenauer hatten das vergiftete Angebot abgelehnt.

Adenauer mußte entschiedenem Widerstand der SPD trotzen

Adenauer fädelte derweil die Westbindung und Wiederbewaffnung ein. Nicht nur als Bundeskanzler, sondern in Personalunion bis 1953 auch als deutscher Außenminister. Er hatte wenige Tage vor seiner Wahl zum Bundeskanzler vom 15. September 1949 ein Memorandum verfaßt, in dem er den Hohen Kommissar der USA, John McCloy, auf die Notwendigkeit westdeutscher Streitkräfte hinwies. Adenauer setzte seine Politik gegen entschiedenen Widerstand der SPD durch. Widerstand gab es aber zum Teil auch in der CDU. Adenauers erster Innenminister Gustav Heinemann (damals noch CDU), später von 1969 bis 1974 auf SPD-Ticket Bundespräsident, trat am 9. Oktober 1950 unter Protest gegen Adenauers Wiederbewaffnungspolitik zurück. 

Zur gleichen Zeit, im Oktober 1950, hatte Adenauer im Eifelkloster Himmerod ehemalige Offiziere der Wehrmacht sammeln lassen, um streng geheim, aber mit Duldung der Westalliierten, über westdeutsche Streitkräfte zu beraten. Geplant wurden laut „Himmeroder Denkschrift“ die Aufstellung von zwölf Heeresdivisionen, starken Jagdfliegerkräften und eine Gesamtstärke von 500.000 Soldaten als „Rechengröße“. Im Anschluß an „Himmerod“ berief Adenauer den CDU-Bundestagsabgeordneten und DGB-Mitbegründer Theodor Blank zum „Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“. Später hieß es einfach „Amt Blank“, es war dem Bundeskanzleramt zugeordnet. Anfangs bestand das Amt aus 20 Mitarbeitern, bis 1953 wurden es 700. Jedenfalls wurde das „Amt“ die Keimzelle des späteren, am 7. Juni 1955 gegründeten und bis 16. Oktober 1956 von Blank geleiteten Bundesministeriums für Verteidigung (ab Ende 1961: Bundesministerium der Verteidigung). Nachfolger wurde für mehr als sechs Jahre Franz Josef Strauß (CSU). 

Die Pläne des „Amts Blank“ freilich waren hochtrabend. Es sollte nicht nur eine Armee mit 500.000 Mann geschaffen werden, sondern es sollte auch hinsichtlich materieller Ausstattung groß geplant werden. Das Hauptaugenmerkt galt der Panzerausstattung. Die Marine sollte 18 kleine Zerstörer, 40 Schnellboote, 54 Minensuch- und 36 Landungsboote sowie zwölf Unterseeboote einschließlich Marineflugzeuge und Hubschrauber bekommen. Die künftige Luftwaffe sollte 1.700 Fluggeräte, stationiert auf 45 Flugplätzen, erhalten. Gebräuchlich in dieser Phase war als Name für die neue Armee der Begriff „Neue Wehrmacht“. Erst Anfang 1956 setzt sich der Name „Bundeswehr“ durch. Er war von Ex-Wehrmachtsgeneralen und von Bundespräsident Theodor Heuss bevorzugt worden.

Adenauer wußte, daß eine bundesdeutsche Armee nicht ohne frühere Wehrmachtsangehörige möglich war. Noch 1959 gab es unter 14.900 Bundeswehroffizieren 12.360, die in der Reichswehr oder Wehrmacht zu Offizieren ernannt worden waren. Auf den Vorwurf, alle hohen Offiziere hätten in der Wehrmacht gedient, antwortete Adenauer, die Nato nehme ihm keine 18jährigen Generale ab. Sehr früh freilich, für den 23. Januar 1951, hatte Adenauer eine Ehrenerklärung für die Soldaten der Wehrmacht durch den damaligen Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte, Dwight D. Eisenhower, erwirkt. Eisenhower erklärte: „Der deutsche Soldat hat für seine Heimat tapfer und anständig gekämpft. Ich für meinen Teil glaube nicht, daß der deutsche Soldat als solcher seine Ehre verloren hat.“ Am 5. April 1951 folgte schließlich Adenauers Ehrenerklärung für die deutschen Soldaten vor dem Bundestag.

Mit der Gründung des Bundesgrenzschutzes (BGS; heute: Bundespolizei) war zum 16. März 1951 eine paramilitärische Bundespolizei, vorrangig zum Schutz der innerdeutschen Grenze, entstanden. Dies geschah ausdrücklich auf Wunsch der alliierten Vereinigten Stabschefs. Von deren Seite hatte es im Mai 1950 geheißen: „Die Vereinigten Stabschefs sind der festen Überzeugung, daß aus militärischer Sicht die angemessene und frühe Wiederbewaffnung Westdeutschlands von grundlegender Bedeutung für die Verteidigung Westeuropas gegen die UdSSR ist.“ 

Der mit Infanteriewaffen und Schützenpanzern ausgestattete BGS wurde damit zu einer Vorläuferorganisation der Bundeswehr; er stellte das Gegenstück zu den kasernierten Einheiten der bereits unmittelbar nach 1945 aufgebauten „Deutschen Volkspolizei“ (VoPo) der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der späteren DDR dar. Vom 1. bis 30. Juni 1956 hatten BGS-Angehörige die Möglichkeit, eine Erklärung abzugeben, ob sie im BGS verbleiben wollten. Wer dies nicht tat, wurde automatisch zum 1. Juli 1956 in die Bundeswehr überführt. Der BGS bildete schließlich die Grundlage unter anderem für die 2. 3. und 4. Grenadierdivision, 

Vorausschauend – oder auch vorauseilend – begleitete der Bundestag den Aufbau der Streitkräfte bereits ab 1952/53. Im „Ausschuß zur Mitberatung des EVG-Vertrags und der damit zusammenhängenden Abmachungen“ und ab 1953 im „Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit“ beriet der Bundestag Gesetze für die neuen Streitkräfte. Etwa das „Gesetz über die Rechtsstellung des Soldaten“. Am 27. Mai 1952 wurde der Vertrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unterzeichnet. Am 25. April 1953 gab es zwischen der Bundesrepublik und den EVG-Mitgliedern sowie Großbritannien und den USA ein Abkommen über die Höhe des deutschen Verteidigungsbeitrages für 1953/54. Dieser betrug monatlich 950 Millionen D-Mark. Die EVG scheiterte allerdings am 31. August 1954 am Widerspruch des französischen Parlaments. Es war nicht bereit, französische Truppen einem europäischen Oberkommando zu unterstellen.

Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954

Am 26. Februar 1954 debattierte der Deutsche Bundestag über einen „deutschen Wehrbeitrag“. Das war nötig geworden, weil die auch von der Bundesrepublik angenommenen Verträge über die – später gescheiterte – EVG die Schaffung einer gemeinsamen Armee in Westeuropa vorsahen. Schließlich wurde die 1. Wehrnovelle („Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes“) mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Das Grundgesetz wurde mit Wirkung ab 26. März 1954 ergänzt. Es ging unter anderem um Artikel 73 und um die „Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht der Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an“.

Wegweisend und von Dauer waren 1949 die Gründung der Nato und der zum 5. Mai 1955 unter Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen erfolgte Beitritt der Bundesrepublik Deutschland als 15. Mitgliedsstaat (heute sind es 32). Die Voraussetzungen hierfür waren wiederum am 3. Oktober 1954 bei der Londoner Neun-Mächte-Konferenz geschaffen worden. Dort war es außer um die Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato auch um die Neufassung des Deutschlandvertrags gegangen. Letzterer war durch das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft nötig geworden. Die am 19. Oktober 1954 unterzeichneten Pariser Verträge lösten den Deutschlandvertrag vom Mai 1952 ab und beendeten auf dem Papier die Besatzungszeit.


Josef Kraus war langjähriger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und ist unter anderem Autor des Buches ,,Nicht einmal bedingt abwehrbereit: Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (München 2019).


Foto: CDU-Plakat wirbt 1953 angesichts der sowjetischen Bedrohungslage für eine Wiederbewaffnung: Eine Gesamtstärke von 500.000 Soldaten als „Rechengröße“ für die neue Armee