© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Kampf um die neue Weltordnung
Vor 75 Jahren gründete Mao Zedong die Volksrepublik China, die sich bis heute zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht gemausert hat
Peter Kuntze

Während sich in deutschen Medien seit Jahren die negativen Berichte über den „systemischen Rivalen“ China häufen, findet mancherlei Bemerkenswertes  kaum Beachtung. So erreichte im vergangenen Jahr die durchschnittliche Lebenserwartung in der Volksrepublik den bisherigen Rekordwert von 78,6 Jahren. Die Zahl der Internet-Surfer näherte sich im Juni der 1,1-Milliarden-Marke; damit lag die Internet-Verbreitung bei 78 Prozent der 1,4 Milliarden Einwohner. Daß chinesische Elektroautos mittlerweile technisch besser und finanziell günstiger sind als die ausländische Konkurrenz, mußte auch VW erfahren und verlor in diesem Jahr seine Spitzenposition im größten Automarkt der Welt. Im März 2023 meldete das Europäische Patentamt, chinesische Unternehmen und Erfinder hätten im Jahr davor ein Rekordhoch von 19.041 Anmeldungen eingereicht. Größter Anmelder war der Digitalkonzern Huawei mit 4.505 Einreichungen.

Als dieser Tage die deutsche Fregatte Baden-Württemberg zum Ärger der Volksrepublik durch die Straße von Taiwan fuhr, hieß es in hiesigen Medien, Taiwan sei eine unabhängige „demokratische Inselrepublik“, die Peking zu Unrecht als „abtrünnige Provinz“ einstufe. Kein Wort davon, daß das bis heute noch immer als „Republik China“ firmierende Taiwan am 25. Oktober 1971 gemäß Resolution 2758 aus der Uno ausgeschlossen und die Volksrepublik als einzig legitime Vertreterin ganz Chinas anerkannt wurde.

Gemäß dieser Ein-China-Politik, der auch Deutschland und die USA folgen, ist die Volksrepublik Rechtsnachfolgerin der Republik China; Taiwan und die Taiwan-Straße sind somit integrale Bestandteile ihres Staatsgebiets. Da das Völkerrecht nur Staaten kennt und nicht Regierungen, spielt es keine Rolle, daß die Insel nie von Peking regiert wurde. Der Konflikt geht auf die Einmischung der USA in den chinesischen Bürgerkrieg zurück, als die Truppen Tschiang Kai-scheks nach Taiwan flohen – in der irrigen Hoffnung, mit US-amerikanischer Hilfe irgendwann das Festland zurückzuerobern.

Erst Deng Xiaoping führte China auf den Weg in die Moderne

Vor 75 Jahren hätte sich indes kein Chinese träumen lassen, daß sein Land eines Tages zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen würde. Alle wußten zwar, daß ein neuer Zeitabschnitt begann, als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik verkündete: „China, ein Viertel der Menschheit, hat sich erhoben. Unsere Nation wird nie wieder gedemütigt werden!“ Mao, der 1921 als 28jähriger in Schanghai mit etwa einhundert Genossen die KP gegründet hatte, war nach Jahrzehnten des Kampfes nach Peking zurückgekehrt. Doch das einstige Reich der Mitte war am Ende. Der Krieg gegen Japan und der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten hatten Millionen Tote gefordert. Die wenigen Industriebetriebe lagen in Schutt und Asche. Auf dem Land waren fast achtzig Prozent der durch Hunger und Krankheit gezeichneten Bevölkerung Analphabeten.

Es bleibt das Verdienst der damaligen Revolutionäre, China auf die weltpolitische Bühne zurückgebracht zu haben, Mao traf aber so große Fehlentscheidungen, daß der Wiederaufbau um Jahrzehnte zurückgeworfen wurde. 1958 propagierte er die Gründung von „Volkskommunen“, um dem Kommunismus näher zu kommen. Der „Große Sprung nach vorn“ wurde indes ein Desaster mit mindestens 36 Millionen Hungertoten. Auch die von Mao 1966 initiierte Kulturrevolution, die einen „neuen Menschen“ hervorbringen sollte, forderte Millionen Opfer.

Erst Deng Xiaoping, der nach Maos Tod (1976) die Richtlinien der Politik bestimmte, setzte 1978 die Reform- und Öffnungspolitik durch mit der Maßgabe, man müsse „die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ und nicht in ideologischen Lehrbüchern. Statt auf den Klassenkampf müsse der Schwerpunkt auf den ökonomischen Aufbau gelegt werden. Die von Deng eingeführte „sozialistische Marktwirtschaft“ ist nach wie vor eines von Pekings Erfolgsrezepten.

Mittlerweile hat sich China zum „systemischen Rivalen“ des Westens entwickelt. 2021 gelang es US-Präsident Joe Biden auf einer großen Europa-Tour, die ihn zum G7-Gipfel nach Cornwall, zum Nato-Treffen nach Brüssel und zur Konferenz mit den Spitzen der EU führte, die Verbündeten für sein wichtigstes Ziel zu gewinnen – Peking politisch und wirtschaftlich in die Schranken zu weisen und so die globale Führungsrolle der USA sicherzustellen. Hierbei handelt es sich um die Reaktion auf zwei jahrelang unterschätzte, weil nicht für möglich gehaltene kopernikanische Wenden der chinesischen Politik.

Die erste, eine ideologische, ist Dengs Reformpolitik, die das einstige Armenhaus aus der Misere geführt hat. Dies widersprach dem Dogma, nur eine Demokratie garantiere Fortschritt. Die zweite kopernikanische Wende ist geopolitischer Natur. Angesichts der Globalisierung ist es nicht mehr möglich, wie einst das Reich der Mitte in selbstgefälliger Isolation zu verharren. Um im 21. Jahrhundert zu bestehen, muß Peking alles daransetzen, das Südchinesische Meer als sein Tor zur Welt wegen der lebensnotwendigen Importe zu kontrollieren. Den Kontinentalkoloß China erstmals zu einer veritablen Seemacht zu entwickeln, oblag somit der Führung unter Xi Jinping, der im November 2012 sein Amt als Staats- und Parteichef antrat.

Kaum ein Jahr später verkündete Xi das bisher ambitionierteste Projekt, mit dem Peking in Abkehr von der bisherigen Geopolitik das Tor zur Welt aufstieß: die Initiative „Ein Gürtel und eine Straße“ (One Belt, One Road). Die beiden Komponenten beziehen sich auf den „Wirtschaftsgürtel Seidenstraße“ und die „Maritime Seidenstraße des 21. Jahrhunderts“. Xi knüpft dabei an die alte Handelsstraße an, die von Ost nach West verlief und Europa mit Asien verband. Letztlich, so die Vorstellung, soll der gesamte Globus mit einem Netz aus bilateralen Beziehungen überzogen werden, so daß China in seinem Selbstverständnis wieder der Mittelpunkt der Welt wird. Gleichzeitig hat sich unter Xi die Marine der Volksrepublik zur größten der Welt entwickelt. In einem geflügelten Wort heißt es daher: „Mao Zedong hat uns von feudaler Ausbeutung und kolonialer Unterdrückung befreit, Deng Xiaoping von der Armut, und Xi Jinping hat uns wieder stark gemacht.“

Foto: Mao Zedong 1949: „Unsere Nation wird nie wieder gedemütigt werden!“