© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Primär das Eigene im Blick
Die US-Historikerin Tara Zahra über Widerstände gegen globale Phänomene in den nach Autarkie strebenden Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg
Stefan Scheil

Henry Ford reiste ab. Am 23. Dezember 1915 hatte der US-Industrielle genug von der aussichtslosen Friedensmission in Europa gesehen, zu der ihn amerikanische Pazifisten überredet hatten. Dafür bezahlte er ein „Ford Friedenschiff“, das nach der Überfahrt über den Atlantik erst kurz vorher in Oslo eingelaufen war. Allen voran die in Ungarn geborene und damals in Frauenrechtskreisen sehr prominente Rosika Schwimmer hatte Ford zu dieser Aktion motiviert. Die US-amerikanische Historikerin Tara Zahra, Professorin für Osteuropäische Geschichte in Chicago, stellt Schwimmer als „progressive jüdische Feministin und Internationalistin“ vor. Sie setzt ihre Person als eine Art Klammer ein, deren Präsenz sich durch das ganze Buch zieht.

Es ist demnach keine Frage, wo die Autorin politisch steht und daß sie die „Globalisierung“ grundsätzlich befürwortet. Sie macht jedoch schnell deutlich, die „Anti-Globalisten“ keineswegs als bloß rückständige oder in der Sache völlig falsch liegende Gruppierungen präsentieren zu wollen. Für den Anti-Globalismus gab es aus ihrer Sicht nachvollziehbare Gründe, und die möchte sie anhand von Beispielen aufzeigen. Globalisierung sei andererseits kein „natürlicher“ Prozeß, sondern könnte nur durch entsprechende politische Rahmenbedingungen gelingen, an deren Vorhandensein Tara Zahra erkennbar Zweifel hegt.

Zahra gliedert ihre Arbeit in drei chronologisch getrennte Teile. Einer bringt Beiträge aus den Jahren zwischen 1913 und 1917, ein zweiter widmet sich den unmittelbaren Nachkriegsjahren und ein dritter dann dem, was die Autorin zwischen 1926 und 1945 für eine Ära des „Anti-Globalismus und der Massenpolitik“ erachtet. Die deutsche Ausgabe des Suhrkamp-Verlags hat diesen Teil des Titels reichlich unglücklich in eine „Zeit des Nationalismus und der Abschottung“ umgemünzt. Das sind Schlagworte binnendeutscher Alltagspolitik, die dem Verlag wohl zur eigenen Positionierung besser gefallen haben. Sie widersprechen dem Buchinhalt allerdings sogar direkt, weist doch die Autorin in der Einleitung ausdrücklich und ausführlich darauf hin, Anti-Globalismus sei etwas anderes als Nationalismus. 

Geographisch gesehen geht die Reise weit um die Welt. Es werden mehrfach die USA in den Blick genommen und die dortigen Bemühungen um neuartige Siedlung und autarkes Leben. Hier taucht dann auch Henry Ford wieder auf, der sich vom Friedensaktivisten zum Kämpfer gegen Globalismus und gegen das entwickelt hatte, was er als „internationales Judentum“ zu erkennen glaubte. Die europäischen Kriegs- und Nachkriegswelten vieler Länder kommen vor, darunter das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland. Trotz der Affinität der Autorin zu Rosika Schwimmer und zahlreichen anderen von ihr erwähnten Intellektuellen mit jüdischem Hintergrund fehlt in Tara Zahras Auswahl der Beispiele von Anti-Globalisierung merkwürdigerweise die von ähnlichen Siedlungs- und Gemeinschaftsmotiven getragene jüdische Kibbuz-Bewegung jener Zeit, die schließlich den Staat Israel mit hervorbrachte. Dafür findet sich ein Kapitel über Mahatma Ghandis indische Nationalbewegung. Die kommt hier allerdings weniger unter dem üblichen Blickwinkel des passiven Widerstands gegen Besatzungsmächte zur Geltung. Zahra sieht eher in dem Ziel Ghandis, die Inder zwar erst mal keine britischen, letztlich vor allem aber nur noch indische Waren kaufen zu lassen, die besonders zeittypische Anti-Globalisierungsausrichtung. Autarkie als Ideal, das sei das Antriebsmotiv gewesen.

Das Bestreben, den Gefahren des Weltmarkts zu entgehen

Noch heute ziert deshalb das Spinnrad als Symbol die indische Nationalflagge, mit dem damals nach Ghandis Vorstellung in jedem Haushalt jener Stoff der Unabhängigkeit zu weben sei, der ausschließlich noch als Kleidung getragen werden sollte. Daß hier vor allem auf Kosten der Lebens- und Arbeitszeit von Frauen gegen die Globalisierung vorgegangen worden sei, konstatiert die Autorin in jenem trockenen Tonfall, der das Buch durchzieht und auszeichnet. Der so gewobene Stoff sei außerdem rauher, schwerer, trotz der Eigenleistung teurer und schlechter zu reinigen gewesen als jener der britischen Baumwollkonkurrenz. Ist Unabhängigkeit vom Weltmarkt ein wertvolles Element der Freiheit, so haben einheimische Ersatzprodukte doch oft ihre Nachteile, das läßt sich als objektive Feststellung speichern. 

Dieses Problem kannte man auch in Deutschland. Die Ansicht, daß der Nationalsozialismus auch als Bewegung von Globalisierungsgegnern verstanden werden muß, vertritt der Rezensent seit Jahrzehnten. Tara Zahra rückt die NS-Ära nun erfreulicherweise ebenfalls ausdrücklich in die Richtung jener damals massenhaft und in vielen Staaten verbreiteten Ansichten, man müsse ein ausreichendes Stück Land unter Kontrolle haben, um den Gefahren des Weltmarkts ebenso zu entgehen wie der Gefahr, in Kriegszeiten von ihm abgeschnitten zu werden. 

Außenpolitische Details der daraus folgenden Entwicklung sind allerdings nicht die Sache der Autorin. Sie konzentriert sich eher biographisch auf die deutschen Protagonisten im Ernährungsministerium, wie Minister Walther Darré und Staatssekretär Herbert Backe. Der Bereich der Landwirtschaft galt nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der damaligen bis zum Sommer 1919 andauernden Hungerblockade der Kriegsgegner beiden als existentielles Feld. Tara Zahra ordnet diese Lebenswege als zeittypisches Phänomen ein. Die Autorin räumt abschließend freimütig ein, angesichts des Umfangs der Fragestellung teilweise deutlich über ihr Wissensgebiet hinaus geschrieben zu haben. Das merkt man auch an der einen oder anderen Stelle. So weinte sich Hitler nicht „in München in die Kissen“, als der Erste Weltkrieg verloren war, und Henry Ford exportierte 1929 auch keine vierzig Millionen Autos in die Sowjetunion, was ein Vielfaches der damaligen Weltproduktion gewesen wäre.  

Das Buch bleibt beschreibend und bietet dem Leser keine endgültigen Antworten an. „Die Spannungen zwischen Globalisierung, Gleichheit und Demokratie“ seien auch in der Nachkriegszeit und bis heute „schmerzlich ungelöst“ geblieben, bilanziert Tara Zahra. Politiker und Experten seien mit dem Versuch gescheitert, die Globalisierung gegen die Demokratie abzuschotten, heißt es wörtlich. Die Menschen protestierten daher weiterhin in Massenbewegungen gegen eine Globalisierung, die sie als ungerecht empfinden würden. Ein Epilog blickt auf die Nachkriegszeit und läßt noch einmal die Protagonisten und manche Themen auftreten. Er schließt mit Rosika Schwimmer. Die war zusammen mit Mahatma Ghandi im Jahr 1948 für den Friedensnobelpreis nominiert. Ghandi wurde im Januar ermordet, Schwimmer starb im August. Der Friedensnobelpreis wurde 1948 mangels geeigneter lebender Kandidaten nicht vergeben. 

Foto: Historischer Globus: Abschottungstendenzen von den USA bis nach Indien

Tara Zahra: Gegen die Welt – Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, gebunden 445 Seiten, 36 Euro