© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Agitprop kurz vor der Wahl
Einsatz von Schauspielern und Politikern: ARD-Sendung „Die 100“ sorgt für einen Skandal
Lorenz Bien / Gil Barkei

Kurz vor der Landtagswahl in Brandenburg strahlte die ARD am 16. September die Sendung „Die 100 – Ist die AfD eigentlich ein Problem?“ aus, die sich mittlerweile zum handfesten Skandal für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) entwickelt hat. Das Prinzip des Formats ist dabei simpel: Zwei Moderatoren, Ingo Zamperoni und „Checker Tobi“ aus dem Kinderfernsehen, bringen Argumente für und wider die Gefährlichkeit der Partei. Die Kandidaten laufen derweil über auf den Boden eingezeichnete Flächen – je nachdem, wo sich ein Gast positioniert, markiert er damit eine zustimmende oder ablehnende Haltung zur AfD.

Doch kurz nach der Ausstrahlung wiesen bereits einige Zuschauer auf X auf Merkwürdigkeiten hin. Unter dem Hashtag #Die100 überprüften Nutzer die Protagonisten – eine Fünfte Gewalt aus Bürgern in den sozialen Netzwerken steht zunehmend der Vierten Gewalt aus Pressevertretern gegenüber. Mehrere Teilnehmer der Sendung entpuppten sich in der Folge als Politiker linker Parteien, Laiendarsteller und Schauspieler – ohne daß dies durch die ARD kenntlich gemacht wurde.

Den Stein ins Rollen brachte der Kandidat Michael Schleiermacher. Zum Ende der Sendung wandelt sich der als „Bankkaufmann“ beschriebene 54jährige vom AfD-Anhänger zum geläuterten AfD-Kritiker und sagt, die Partei sei „ein Wolf im Schafspelz“. Verschwiegen wird, daß Schleiermacher aufgrund einer Behinderung nicht mehr in seinem Beruf tätig ist und stattdessen regelmäßig als Laienschauspieler arbeitet, unter anderem im „Tatort“. Dies bestätigte Schleiermacher später gegenüber Spiegel, Welt und NZZ und betonte, daß es bei „Die 100“ allerdings keine Vorgaben, Skripte oder Drehbücher gab und er rein als Privatmann teilgenommen habe.

In den folgenden Tagen bis zur Wahl in Brandenburg kommen dennoch weitere pikante Details zu den angeblichen 08/15-Kandidaten ans Licht. Ein „Student aus Barsinghausen“, Dennis Knorn, erklärte, daß die Sendung helfen könne, „die verschiedenen Meinungen zu visualisieren“. Daß er seit März Abteilungsvorsitzender der SPD im niedersächsischen Egestorf ist, erfährt der Zuschauer nicht. Eine weitere Person, als Arbeitspädagoge unter dem Namen Kofi Bernd Räder vorgestellt, entpuppt sich als Kreistagspolitiker der linken Satirepartei „Die Partei“. Ebenfalls mehrfach eingeblendet wurde der SPD-Kommunalpolitiker Martin Hobmeier. Die ehemalige Linken-Abgeordnete Bärbel Beuermann trat ebenso als Gast in der Sendung auf. So wurde sie dem Publikum zwar auch vorgestellt, unerwähnt blieb jedoch ihr Wechsel zur SPD. Als Gast mit der Nummer sieben – weil alle 100 Teilnehmer eine sichtbare Nummer an der Oberbekleidung trugen – wurde Arne Arnemann vorgestellt. Die ARD bezeichnete den 57jährigen als „Inklusionskünstler“ und ließ unerwähnt, daß Arnemann in der Vergangenheit bei einer Kommunalwahl für die SPD kandidiert hatte. Eine interviewte 84jährige „Hotelkauffrau“ namens Brigitte Gromm ist Kommunalpolitikerin der Linken.

Christina-Maria von Gusinski wurde als AfD-Unterstützerin vorgestellt und sagte, es sei „nicht fair, wenn man alle, die die AfD gewählt haben, ausgrenzt. Ich bin dafür, daß eine schöne Koalition aus der CDU und der AfD entsteht“. Daß von Gusinski seit Jahren an öffentlich-rechtlichen Fernsehproduktionen wie etwa dem ZDF-Film „Abgebrannt“ mitwirkte, wurde dem Zuschauer nicht gesagt. Auf dem Profilfoto ihrer Agentur-Seite trägt sie dieselbe Kleidung wie in der „Die 100“-Sendung. Bei der besagten Agentur Stagepool ist laut X-Schwarm auch Michael Schleiermacher. Über Stagepool ist außerdem Teilnehmer 42, Harry Leutfried Tomberg, als Laiendarsteller tätig. Teilnehmer 31, Dustin Mischak, ist laut eigener Auskunft auf Instagram ebenfalls als Filmdarsteller unterwegs.

Der NDR weist die Vorwürfe zurück

Der Publizist Rainer Zitelmann äußerte angesichts der unterschlagenen Hintergründe den „Verdacht: Neben echten, zufällig ausgewählten Personen wurden andere dazugemischt, damit die Storyline stimmt.“ Das Nachrichtenportal Nius warf der ARD „Manipulation statt Information“ vor. AfD-Chefin Alice Weidel fordert eine umgehende Aufklärung des Skandals. „Der ÖRR gibt sich nicht einmal mehr den Anschein, politisch ausgewogen zu sein, und strahlt kurz vor der Wahl in Brandenburg eine Anti-AfD-Sendung aus“, schrieb sie auf X. Für den stellvertretenden Bundessprecher der AfD, Stephan Brandner, steht angesichts „solch plumper Beeinflussung der Wähler“ fest: „Der zwangsfinanzierte Regierungsrundfunk muß abgeschafft werden!“ Der Brandenburger AfD-Spitzenkandidat Hans-Christoph Berndt stellte klar, die Öffentlich-Rechtlichen hätten „in diesem Wahlkampf alle Argumente für die Abschaffung der GEZ-Finanzierung geliefert und manifestiert“.

Doch von Einsicht beim ÖRR oder in der linksliberalen Medienblase insgesamt kann keine Rede sein. So wurde das seit November 2023 laufende TV-Format „Die 100 – Was Deutschland bewegt“ – neben der AfD waren zuvor schon der Klimawandel und die Migration Themen – für den diesjährigen Deutschen Fernsehpreis nominiert. Die Sendung beschreite „mit der unmittelbaren Beteiligung von Bürgern“ neue Wege, so die Jury. Moderator Ingo Zamperoni treffe stets den richtigen Ton und sorge dafür, „daß die Atmosphäre stets fair und sachlich bleibt. Darüber hinaus punktet das Format durch gute journalistische Vorbereitung“, heißt es dazu in der Begründung der Juroren. Weiter von den Zuschauern und Zwangsbeitragszahlern kann man sich wohl kaum entfernen. Zumal sich die Macher als Wiederholungstäter herausstellten. Auch in der Folge „Die 100 – Migration begrenzen?“ wird ein Kandidat als vermeintlicher Normalo begrüßt, doch der als Projektmanager im Bauwesen vorgestellte Christoph Jünemann ist laut des ÖRR-Blog „Die Partei“-Mitglied und im Ortsrat in Duderstadt tätig. 

Georg Restle vom ARD-Format „Monitor“ stellt die Auffälligkeiten in der AfD-Folge jedoch eher als zufällige Fehler dar und schreibt auf X, wer behaupte, „das sei böse Absicht gewesen, verbreitet Verschwörungsmythen“. Diese erzählen dann wohl auch einige seiner Journalisten-Kollegen. Denn es gab durchaus kritische Stimmen von anderen Medien. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) sprach von einem „Geschenk von ARD und NDR an alle Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“. „Die Sendung war falsch, gewollt und schlampig umgesetzt“, schreibt die Welt. „Es ist nicht die Aufgabe von Journalismus, Menschen – und schon gar nicht Kinder – in eine politische Richtung zu schubsen, sondern mündige Entscheidungen durch Information zu ermöglichen.“ Und die Süddeutsche Zeitung bemängelte: „Ach, ARD, mußte man es Alice Weidel wirklich so leicht machen?“

Die zuständige Produktionsfirma Ansager & Schnipselmann des ehemaligen ARD-Moderators Frank Plasberg gibt sich schmallippig und bittet auf JF-Anfrage darum, sich „zu allen Fragen“ an „den NDR wenden“. Der federführende NDR verweist lediglich auf die wegen der scharfen Kritik aktualisierten FAQ und betont: „Der Norddeutsche Rundfunk weist die erhobenen Vorwürfe zur Produktion ‘Die 100’ als falsch zurück. Es werden keine Darstellerinnen oder Darsteller eingesetzt.“ Die Teilnehmer würden „erst kurz vor der Aufzeichnung der Sendung“ erfahren, „welches Thema behandelt wird“. Zwar werde versucht, „eine möglichst bunte Mischung vor Ort“ zu haben, weshalb „die Redaktion im Vorfeld auch nach allgemeinen politischen Ansichten fragt, um sicherzustellen, daß möglichst Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen“. Allerdings bildeten „die Teilnehmenden keinen repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung ab“. Zudem würden nur „die Reisekosten übernommen und ein Zuschuß zu den Hotelkosten gezahlt“. Das ZDF stellt klar: „Niemand wird bezahlt, um eine bestimmte Meinung zu äußern, alle sollen ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen.“

Angesichts der länger und länger gewordenen Liste von teilgenommenen Laiendarstellern und Schauspielern wirft Apollo News den Verdacht ein, der NDR habe, „nicht nur eine Sendung und seine Zuschauer manipuliert, sondern auch gegenüber Presse und Öffentlichkeit die Unwahrheit verbreitet“. Auch zu diesem Vorwurf äußert sich der NDR auf JF-Nachfrage nicht. So müssen die zusammengetragenen Ergebnisse der neuen Fünften Gewalt für sich sprechen.