© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Von Herakles bis zur Krankenschwester
Künstliche Intelligenz erstellt ein Panoramabild: Eine Ausstellung im Rosenheimer Lokschuppen zeigt Facetten der Heldenverehrung im Wandel der Zeit
Felix Dirsch

Zu den Ausstellungen, die es in postheroischen Zeiten eigentlich gar nicht geben dürfte, zählt die aktuelle im Rosenheimer Lokschuppen. Sie widmet sich einem vielschichtigen Thema: Heldinnen und Helden werden in fast erschöpfender (und nicht zuletzt einer den Besucher erschöpfenden) Weise dargestellt. So ist das Sujet ein populäres mit unzähligen Details, die genaueres Hinsehen verlangen. Die Präsentation changiert zwischen dem Helden als besonderer Ausnahmeerscheinung und dem im Alltag, der eben nicht alltäglich ist.

Wir leben in einer Epoche, in der der Anschein von Männlichkeit und Kriegertum, der alles Heroische irgendwie umgibt, verpönt ist – oder vielleicht doch wieder aktuell? Darüber hinaus lebt das massendemokratische Zeitalter, das überall in der westlichen Moderne und weit darüber hinaus angebrochen ist, von einer nivellistischen Grundtendenz: Gleichheit dominiert über Ungleichheit! Dennoch gilt: Idole gehören zu den Archetypen menschlichen Daseins, die zu jeder Zeit als Leitfiguren wegweisend sind. Egalität besitzt hingegen eine Tendenz zur Öde.

Einer der größten Helden der Menschheitsgeschichte stammt aus der Antike und empfängt den Besucher der Rosenheimer Ausstellung in der Nähe des Eingangs: Der überlebensgroße Herakles wirkt eher gelangweilt, als daß seine Pose seine Anwesenheit auf dem Olymp rechtfertigen könnte.

An vielen Helden gibt es

auch einiges zu bekritteln

Während Herakles im Mythos eine überdimensionale Rolle zukommt, sieht es mit den Helden, die im weiteren Verlauf der Präsentation zu sehen sind, etwas anders aus. Die Ambivalenz der Heroen zählt zu den zentralen Fragestellungen der Darbietung. Gleichgültig ist dabei, ob die Vorgestellten Nelson Mandela, Graf Schenk von Stauffenberg, Mutter Teresa, Greta Thunberg oder Jeanne d’Arc heißen. Trotz ihres Status gibt es einiges an ihnen zu bekritteln. Es sind halt auch nur Menschen. Hatte nicht der Engel von Kalkutta das Leid zu sehr verherrlicht und zu wenig auf Hygiene geachtet? Dies sagt man auch einem anderen Idol nach, dem Urwalddoktor Albert Schweitzer. Von Stauffenberg galt in den ersten beiden Nachkriegs-Jahrzehnten vielen noch als Hochverräter, später beklagte man öfter seine mangelnde demokratische Gesinnung. An Thunberg, weltweit oberste Klimaretterin, zuletzt aber wegen Anti-Israel-Gesinnung auf einem absteigenden Ast, kann man die unterschiedlichen Facetten einer Galionsfigur erkennen. Dem Helden läßt sich der Anti-Held zur Seite stellen. Zu letzterer Gattung kann man die Romangestalt Oblomow wie die Filmfigur Mr. Bean rechnen.

Selbst größeren Gruppen, die über längere Zeiträume Leitfiguren verkörpern, bleibt das Schicksal der Zwiespältigkeit nicht erspart. Dazu zählen mittelalterliche Ritter, deren Bedeutung aufgrund des Wandels der Kampftechnik mit der Zeit zunehmend im Schwinden begriffen war. Nicht wenige der Repräsentanten dieses Standes endeten als Raubritter. Dieser Niedergang wird weltliterarisch von Don Quichotte repräsentiert, mehr anachronistischer Anti-Held als das Gegenteil.

Ausnahmegestalten in der Literatur, in Comics und Filmen 

Solche Mehrdeutigkeiten sucht man bei einer Comic-Figur wie Ladybug vergebens, deren Äußeres freilich nicht nur bei Vertretern des Feminismus Anstoß erregen dürfte.

Weiteren Fragestellungen wird nachgegangen: Wie wird ein Held eigentlich zum Helden und wie gemeinschaftsfähig muß er oder sie sein? Es reicht nicht, für außergewöhnliche Leistungen verantwortlich zu sein. Sie müssen auch gesellschaftlich als hervorragend anerkannt sein. Die allermeisten Heldentaten dürften als solche kaum registriert sein, da sie lediglich in überschaubaren Kreisen geschehen und medial nicht oder nur wenig transponiert werden. Über den Aufstieg von Durchschnittsmenschen zu außergewöhnlichen Persönlichkeiten gibt die Schau interessante Hinweise. Gibt es allgemeine Strategien auf dem Weg zur Exzellenz?

Über ausbleibende Honorierung konnte sich die zweifache Nobelpreisträgerin und Physikerin Marie Curie nicht beklagen. Andere weibliche Forscherinnen früherer Generationen, etwa Lise Meitner und Rosalind Franklin, bekamen (wenn auch aus verschiedenen Gründen) die verdiente Ehrung nicht. Die meisten Helden kommen nicht ohne Unterstützung aus. Der Einzelgänger Albert Einstein gilt diesbezüglich als Ausnahme. Die „Helden von Bern“ hätten ihren Erfolg 1954 nicht als Einzelpersonen erringen können. Der Attentäter Georg Elser, der ohne Hintermänner seine Tat plante und ausführte, wird von vielen ungeachtet seines Scheiterns verehrt. Die Liste der Helden der Zeitgeschichte, von Wolodymyr Selenskyj über Rudi Dutschke bis zu Julian Assange, ist lang.

Medien wie Literatur, Film, Comics und so fort sind voll von Ausnahmegestalten. In der Ausstellung ist eine Fülle von Beispielen zu bestaunen. Harry Potter ist exemplarisch zu nennen, ebenso James Bond, Pippi Langstrumpf und Prinz Eisenherz. Auch Batman fehlt nicht. Findet man wenigstens auf diesem Feld ein anfeindungsfreies Refugium? Leider nicht! Selbst imaginierte Gestalten wie Winnetou mutieren schnell zum Staatsfeind, wenn mediale Zensoren die von einstigen Ikonen verkörperten Inhalte als obsolet empfinden.

Das Panorama-Bild ist eindrucksvoll: Es zeigt nochmals in Kurzform die ganze Ausstellung: von Herakles am Anfang bis zur Krankenschwester am Schluß. Letztere zählt zu jenen Gruppen, die die Gesellschaft besonders während der Corona-Zeit am Laufen gehalten haben und dies (bei oft geringer Anerkennung) Tag für Tag weiter tun. Soll man Care-Tätigkeiten durch bessere Bezahlung aufwerten? Die Initiatoren der Ausstellung machen die Probe aufs Exempel: Wer die Frage bejaht, muß bereit sein, einen Obolus zu entrichten. Interessant ist ebenfalls, wer denn das Panoramabild erstellt hat. Es handelt sich um einen Helden, der unseren Alltag jetzt schon unübersehbar bestimmt und dies in Zukunft noch viel mehr tun wird: die Künstliche Intelligenz.

Daß immer stärker (auch in der aktuellen Präsentation) der Alltag als Ort der Gelegenheit zu Heldentum begriffen wird, mag man grundsätzlich begrüßen. Allerdings ist mit dieser Neuakzentuierung eine bekannte Gefahr verbunden: die der Inflationierung. Was das konkret bedeutet, kann man am Ende der Schau vernehmen: Eine Ärztin wird gelobt, weil sie vor Jahren eine Abtreibungsklinik im Ruhrgebiet gegründet hatte. Ihre Arbeit wird als Meilenstein herausgestellt, die Kritiker dieses Unternehmens mit negativen Kommentaren bedacht. Auch in toto bemerkenswerte Ausstellungen kommen nicht ohne Tiefpunkt aus.

Das Thema eignet sich für Mitmachaktionen und Interaktionen aller Art. Man kann sich sogar eine App herunterladen, mit deren Hilfe man auf virtuelle Heldenreise gehen kann. Die Möglichkeiten sind auch in diesen Bereichen praktisch unüberschaubar.


Die Ausstellung „Heldinnen & Helden“ ist bis zum 15. Dezember 2024 im Lokschuppen Rosenheim, Rathausstraße 24, täglich von 9 bis 18 Uhr, Sa./So. ab 10 Uhr, zu sehen. Das Begleitbuch mit 272 Seiten und 284 farbigen Abbildungen kostet 29,90 Euro.

 www.lokschuppen.de


Fotos: 

Herakles, Gipsabguß: Der überlebensgroße Held der Antike wirkt hier etwas gelangweilt

Graffiti „Super Nurse“, 2020 in Hamm; Büste von Sophie Scholl: Verdiente Ehrung