© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

Von der Dekadenz zur Wokeness
Träume den unmöglichen Traum: „Megalopolis“, das filmische Vermächtnis von Regietitan Francis Ford Coppola, verspricht Größenwahn und hält das Versprechen
Dietmar Mehrens

Megalomanie bedeutet in gewöhnliches Deutsch übersetzt so viel wie Größenwahn. Es ist eine Eigenschaft, die Regisseur Francis Ford Coppola, der mit sündhaft teuren Drei-Stunden-Epen wie „Der Pate“ (1972) oder „Apocalypse Now“ (1979) die Sehgewohnheiten der Siebziger sprengte, und Cesar Catilina, die Hauptfigur seines wahrscheinlich letzten großen Kinokunstwerks, miteinander teilen. Adam Driver, der aus der letzten „Krieg der Sterne“-Trilogie als böser Bruder von Heldin Rey bekannt gewordene Kalifornier, spielt diesen Cäsar der Neuzeit, der mit einer Superheldengabe gesegnet ist – er kann die Zeit anhalten –, diese aber ganz anders einsetzt als die kostümierten Übermenschen aus dem Hause Marvel. Als Erfinder der Supersubstanz Megalo, die man sich am besten vorstellt als Kryptonit für Architekten, träumt Cesar Catilina den unmöglichen Traum: den von einer Zukunftsstadt der universellen Harmonie und Gerechtigkeit.

Die vielen Versatzstücke und Verweise auf die Kultur der Antike laden die Adressaten aus elitären akademischen Zirkeln zwar zum anregenden Elfenbeinturm-Gespräch ein, aber was soll Otto Normalkinogänger damit anfangen? Wäre ein Regisseur, der der Nachwelt etwas von bleibendem Wert hinterlassen wollte, eine Art cinematographisches Vermächtnis, nicht besser beraten gewesen, einen Film zu drehen, der auch jenseits der links-intellektuellen Blase funktioniert?

Ein bizarres Konstrukt aus altem Rom und neuem New York

Drei Schrifttafeln, die das Schicksal Roms, also seinen Untergang, in Erinnerung rufen, sind das erste Bild, das die Kamera einfängt. „Wann stirbt ein Imperium? Wenn die Menschen aufhören, daran zu glauben“, erfährt der Zuschauer, während die ersten Impressionen der von Francis Ford Coppola entworfenen Megastadt New Rome, ein bizarres Konstrukt aus altem Rom und neuem New York, auf ihn einwirken. Einst war die Stadt das Zentrum der Welt, unangreifbar, triumphal. Inzwischen sind viele Bauwerke heruntergekommen. Die Macht und die Gier weniger Männer haben die Metropole destabilisiert. In einer Art Prolog macht Cesar Catilina den Kapitalismus dafür verantwortlich. Er träumt von einer besseren Welt.

Coppola wildert für seine wilde Geschichte recht ungeniert in der Geschichte des Römischen Reiches, vereinigt in der Figur des Cesar Catilina Opfer (Cäsar) und Urheber (Catilina) einer Verschwörung, setzt mit dem schwarzen Bürgermeister Cicero (Giancarlo Esposito) dem Gegner des historischen Catilina ein Denkmal und mit dem Bankier Crassus (Jon Voight) dem Bundesgenossen Cäsars im ersten Triumvirat. Damit das Ganze etwas Kontur bekommt, hat der Regisseur eine „Romeo und Julia“-Handlung eingeflochten, zu der auch die Intrigen des schurkischen Clodio Pulcher (Shia LaBeouf) passen. Er ist der schlecht erzogene Sohn des Geschäftsführers der Crassus-Nationalbank, die Cesars Traum finanzieren soll. Schon diese Umrisse der Handlung zeigen: Coppola mutet dem Zuschauer einiges zu und verfährt recht ungeniert nach der Methode: Was nicht paßt, wird passend gemacht.

Ein Utopia ohne Gott, verwirklicht im Geiste des Regenbogens

Immerhin: Mit Julia (Nathalie Emmanuel), der bezaubernden Tochter des Bürgermeisters, kommt nicht nur Anmut in die Geschichte, sondern auch etwas Drama. Zunächst begegnet die attraktive Edeldame dem Helden mit Hochmut und herausfordernden Gesten. Als er jedoch zu Unrecht beschuldigt wird, die Jungfrau aus der Jungfrauen-Versteigerung, einem Riesen-Medienereignis im „Tribute von Panem“-Stil, bereits entjungfert zu haben, schlägt sie sich auf die Seite des Entrechteten. Sehr zum Mißfallen ihres Vaters und auch für den Zuschauer etwas überraschend werden sie und Catilina ein Liebespaar. Leichter wird damit nichts für den Stadtentwickler und seinen Universalplan für eine bessere Zukunft. Er bekommt es zu tun mit Ränkeschmieden, Egomanen und Populisten. Als solcher entpuppt sich nämlich Clodio Pulcher: Der Mann mit dem Beinamen „der Schöne“ macht weniger Frauen als vielmehr dem Pöbel von der Straße schöne Augen und entwickelt sich mit patriotischen Parolen – Vorsicht, Parabel! – zu einer rechten Gefahr. Da für sein Megalopolis-Projekt viele Menschen obdachlos zu werden drohen und das die Stimmung gefährlich anheizt, kommt es zu Unruhen und schließlich sogar zu einem Mordanschlag auf den Visionär. Für Julia und ihre Liebe zu ihm schlägt die Stunde der Bewährung.

Wäre „Megalopolis“ ein Gemälde, es wäre ein Werk des Surrealismus, in das man alles und nichts hineininterpretieren kann. Die einen werden diesen Film also fasziniert anstarren und zu dechiffrieren versuchen, was sich dechiffrieren läßt, die anderen sich rasch abwenden und zum nächsten weitermarschieren in der Hoffnung, damit mehr anfangen zu können. Der 85jährige verfilmte einen Stoff, der ihm seit vierzig Jahren im Kopf herumging. Viel eigenes Geld floß in die 120 Millionen Dollar teure Bilderorgie. Zu seinen Motiven äußerte er sich während der Filmfestspiele von Cannes, auf denen sein neuer Film im Mai vorgestellt wurde. Coppola drückte seine Skepsis aus, daß Politiker das Zeug dazu haben, die multiplen Gegenwartsprobleme zu lösen. Von den zeitgenössischen Künstlern, wie er selbst einer ist, verspricht er sich mehr. Sie könnten Probleme sichtbar machen. Künstlerische Betätigung, die dem Auftrag der gesellschaftlichen Relevanz nicht gerecht werde, sei dagegen „wie einen Hamburger zu machen, den man ißt, der aber keinen Nährwert hat“, so der Regisseur.

Beginnen läßt er „Megalopolis“ mit einer umfassenden Darstellung von Dekadenz und Sittenverfall, die an „Fellinis Satyricon“ (1969) mit seinen wüsten Gelagen und perversen Ausschweifungen erinnert. Daß er schließlich das von Catilina ersehnte Utopia gleichwohl Wirklichkeit werden läßt, ist das symptomatische „Deckel-drauf“ am Ende einer Geschichte, bei der vieles aus den Fugen gerät, noch mehr befremdet und vor allem: nichts zusammenpaßt. 

Muß man’s noch eigens sagen? Die filmisch wahr gewordene Utopie des Oscar-Preisträgers ist selbstverständlich die der grün lackierten Technokraten, die nicht nur bei uns, sondern auch im Silicon Valley ihren Traum von der totalen Transformation und der Überführung der Welt in ein neues Zeitalter träumen, und die Megalo-Stadt, die er auf Zelluloid errichten läßt, der säkulare Gegenentwurf zum neuen Jerusalem, das der Seher Johannes im letzten Kapitel der Bibel vor Augen malt. Es ist ein Utopia ohne Gott, verwirklicht von Menschen im Geiste des Regenbogens, der Völker grenzüberschreitend miteinander verbindet. Als Bürge dieser Botschaft muß am Ende des Films der römische Kaiser Mark Aurel herhalten, der mit Worten aus den „Selbstbetrachtungen“ zitiert wird: „Unser Universum ist, was unser Geist daraus macht.“ Dabei komme es nicht darauf an, auf der Seite der Mehrheit zu stehen.

Ein Plädoyer für Visionäre also, die in ihrer Eigenschaft als Erleuchtete auf dem Pfad ins neue Zeitalter mutig voranschreiten. Genau das ist die Definition von „Wokeness“. Kein Wunder, daß der Film jetzt, im Regenbogenzeitalter, möglich wurde. Kein Wunder auch, daß „Megalopolis“ zwar als Dekadenzporträt beginnt und danach zwei Stunden lang im Sündenpfuhl der Menschheit badet, um dann jedoch in einer unerwartet optimistischen und rührend naiv präsentierten Zukunftsvision zu enden, die im Refrain des Liedes „Lonely Planet“, das über dem Abspann läuft, ihren kongenialen musikalischen Ausdruck findet: „Wenn du die Welt nicht verändern kannst, verändere dich selbst“. Wenigstens ist der Regisseur so fair, das alles mit dem Etikett Größenwahn zu versehen.


Kinostart ist am 26.September 2024 https://constantin.film/kino/megalopolis


Foto: Schöne Neue Welt in Francis Ford Coppolas Traumfilmprojekt „Megalopolis: „Unser Universum ist, was unser Geist daraus macht“ (Marc Aurel)