© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

„Rückgang ziviler Präsenz“
Nahostkonflikt: Der Pager-Coup schwächt die Hisbollah vorübergehend
Marc Zoellner

Nichts ging mehr am Montag morgen auf der A3 im Libanon: Zig Kilometer zogen sich Staus dahin, die an der Küste entlang die Weltkulturerbestadt Tyros mit der Hauptstadt Beirut verbindet. Tausende vollbesetzte Fahrzeuge fuhren gen Norden; vorbei an Bombenkratern und einschlagenden Sprengladungen der Israelischen Luftstreitkräfte (IAF). Mehr als 300 solcher Luftangriffe gegen Ziele der schiitischen Hisbollah flogen die IAF allein am 23. September, Hunderte weitere mutmaßliche Hisbollah-Stützpunkte wurden bereits am Wochenende ins Visier genommen. Darunter auch in der Nähe zu Tyros: Denn die historische Hafenstadt liegt innerhalb der Dreißig-Kilometer-Zone zur israelischen Grenze.

Letztere sollte schon seit September 2006 demilitarisiert sein. Nach dem israelisch-libanesischen Krieg, der mit einem Waffenstillstand endete, verlangte der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1701 den Rückzug der Hisbollah aus sämtlichen Gebieten südlich des Litani-Flusses sowie die komplette Entwaffnung der Terrorgruppe durch die libanesische Armee. Allein die Hisbollah hielt sich nicht an die Resolution – und griff infolge der Hamas-Massenmorde vom 7. Oktober 2023, „des schlimmsten Massakers an Juden seit dem Holocaust“ (Times of Israel), seit dem 8. Oktober erneut von grenznahen Basen aus mit Raketen israelische Siedlungen an. Über die Luftangriffe wird groß berichtet, denn sie gehen einher mit der internen Vertreibung von bis zu einer halben Million libanesischer Zivilisten. Unbeachtet bleibt, daß dem eine Vertreibung von 90.000 Israelis aus dem Norden ihres Landes durch Hisbollah-Angriffe vorausging.

Israel sei „an einem Krieg mit dem Libanon nicht interessiert“, betonte Staatspräsident Jitzchak Herzog. Aus der politischen Stoßrichtung der Luftangriffe macht Premier Benjamin Netanjahu jedoch keinen Hehl: „Ich habe bereits gesagt, wir werden die Bewohner des Nordens sicher in ihre Häuser zurückbringen, und genau das werden wir tun“, so der Likud-Politiker in einer Videoansprache. Der Minimalforderung der Hisbollah für einen Separatfrieden – dem sofortigen Rückzug sämtlicher israelischer Truppen aus dem Gazastreifen – kann die Jerusalemer Regierung aus guten Gründen nicht entsprechen: Zwar ist die sunnitisch-islamistische  Hamas nach elf Monaten Krieg sehr geschwächt, ihre Anführer entweder tot (Ismail Hanija) oder verschwunden (Jahia al-Sinwar). Doch noch immer befinden sich israelische Geiseln in den Händen der Hamas. „Die einzige Möglichkeit, die Rückkehr der nördlichen Gemeinden Israels in ihre Heimat sicherzustellen, wird eine Militäraktion sein“, erklärte Verteidigungsminister Joaw Galant jüngst auf Anfrage des US-Sondergesandten Amos Hochstein.

Wie diese aussehen soll, darüber debattieren Militär und Politik. Für eine Bodenoffensive plädiert dabei Uri Gordin, Kommandeur der nördlichen Truppen der Israelischen Streitkräfte (IDF) gerade angesichts der Flucht vieler libanesischer Zivilisten: „Dieser erhebliche Rückgang der zivilen Präsenz würde es der IDF ermöglichen, das vorgeschlagene Manöver effizienter und schneller durchzuführen“ und bei Gefechten mit der Hisbollah somit wenige zivile Kollateralschäden in Kauf nehmen zu müssen, so der Generalmajor in der Zeitung Israel HaYom.

Zumal die Kommunikationsstrukturen der Hisbollah empfindlich gestört wurden: Am 17 und 18. September explodierten simultan Tausende AR924-Pager und Walkie-Talkies im Libanon und verletzten dabei Tausende zumeist schwer; 42 wurden getötet. Die Geräte hatte die Hisbollah im Frühjahr für ihre ranghöheren Mitglieder eingekauft – allerdings bei einem mutmaßlich vom Mossad inszenierten Scheinfirmennetzwerk. Vergangenen Freitag schließlich flog die IAF Präzisionsangriffe auf Beirut, liquidierte dort mit Ibrahim Aqil den langjährigen Chef der Hisbollah-Einheit Radwan. „Ohne Zweifel haben wir einen schweren Schlag erlitten“, mußte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eingestehen. „Es ist beispiellos in der Geschichte des Widerstands im Libanon.“ Seit dem Hisbollah-Angriff auf Israel am 8. Oktober listet der Telegramkanal „Hezbollah Martyrs“ über 500 Gefallene auf.

Trotzdem möchte Nasrallah nicht an Kapitulation denken. Er schwört derzeit seine Anhänger auf eine von ihm erhoffte israelische Bodenoffensive ein. Und läßt weiterhin Raketen auf israelische Siedlungen feuern: Allein am Sonntag zählte die IDF über einhundert der ungezielten Geschosse. Allein „mehrere hunderttausend Kinder“, so der regionale IDF-Sprecher Nadav Shoshani, konnten dadurch nicht in die Schule gehen, mußten stattdessen in Luftschutzbunkern um ihre Leben bangen.