Isabel Wiseler-Santos Lima, Abgeordnete der Europäischen Volkspartei (EVP) aus Luxemburg, ist aufgebracht. Die ehemalige Lehrerin einer Privatschule gehört zu den Einbringern einer Resolution im EU-Parlament, die sich in der vergangenen Plenarwoche mit der Lage afghanischer Frauen beschäftigt. Neben einem Aufruf, „Gender-Apartheid“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen, wendet sich die „Joint Motion for a Resolution“ (JMR) auch dagegen, die schwierigen Beziehungen zu den Taliban zu normalisieren. Stattdessen sollten „universelle Werte“ verteidigt werden, die EU als Teil einer globalen Strategie, um dem armen Agrarland den Weg zur Demokratie zu ermöglichen.
Bisher galten hier in Straßburg die Debatten zu derartigen Resolutionen, die überdies eigentlich einen rein symbolischen Wert haben, als eher ruhige Tagesordnungspunkte. Einhellig verkünden Redner ihre Unterstützung, Parteien rechts der Mitte legen dabei den Fokus meist auf Islamkritik, Parteien links der Mitte auf Frauenrechte und woke „Gender-Perspektiven“. Doch an diesem ungewöhnlich heißen Septembertag scheint etwas in der Luft zu liegen. Die Stimmung ist angespannt. Erkennbar überwölbt die Migrationsdebatte in mehreren Mitgliedsstaaten die Debatte.
Sollen Brüssel und Berlin wirklich zu Kabul werden?
Besonders deutlich wird das nach dem Wortbeitrag des für den Menschenrechtsausschuß zuständigen AfD-Abgeordneten Tomasz Froelich, der der neuen Rechtsfraktion Europa der Souveränen Nationen (ESN) angehört: Man solle endlich mit „den Belehrungen aufhören“. Afghanistan zur Demokratie „umzuerziehen“ habe nicht geklappt. Stattdessen brauche man die Normalisierung der Beziehungen für „Abschieben, Abschieben und Abschieben“. Andernfalls würden, so der in Hamburg und Stettin aufgewachsende Ökonom, „Brüssel und Berlin zu Kabul.“ Harter Tobak für die 1961 in Portugal geborene Wiseler-Lima. Erbostes Getuschel unter den anwesenden Abgeordneten ist die Folge.
Dabei rückt etwas in den Hintergrund, daß der ESN-Vertreter nicht nur persönlich Kritik am neuen Gesetz zur Geschlechtertrennung in Afghanistan geäußert hatte, sondern als Beispiel für eine konstruktive Herangehensweise ausgerechnet die Volksrepublik China und die Islamische Republik Iran nannte. Beide Regierungen hatten in einem Statement im Februar den gemeinsamen Nachbarn dazu aufgerufen, „die Zugangsbeschränkungen für Frauen zu Arbeit und Bildung zu beenden“. Ein bemerkenswerter Schritt, gelten doch beide Staaten bisher als deutliche Kritiker einer vor allem im Westen verbreiteten Lehre „universaler Menschenrechte“.
Tatsächlich dürfte sich sowohl in Teheran als auch in Peking die Ansicht durchgesetzt haben, daß eine weitere Verschärfung der Situation ethnischer und religiöser Minderheiten und ein noch drastischerer Ausschluß von Frauen aus dem Arbeitsleben einer Stabilisierung der afghanischen Gesellschaft nicht zuträglich sein dürften. Denn nach dem Ende des jahrzehntelangen Bürgerkriegs strömen Hunderttausende Afghanen zurück in ihre Heimat, die meisten davon unfreiwillig.
Etwa vier Millionen Afghanen will allein Pakistan abschieben, über eine Million dürften seit dem vergangenen Jahr aus Pakistan zurückgekehrt sein. Auch der Nachbar Iran drückt aufs Tempo. Etwa zwei Millionen Flüchtlinge leben seit Jahren im Land und sollen so schnell wie möglich zurückgeführt werden. Für die Regierung in Kabul ist das ein gigantisches Problem: Die Rückkehrer müssen versorgt und untergebracht werden. Viele verfügen über keine Ausweisdokumente, sind in keiner Form registriert. Die ohnehin kaum vorhandene Bürokratie wird kaum in der Lage sein die Herausforderung zu bewältigen.
Auch deshalb zeigen sich die neuen Herren in Kabul durchaus offen für mehr oder weniger freundliche Hinweise der beiden deutlich mächtigeren Nachbarn. Denn Afghanistan benötigt seit dem Wegfall westlicher Entwicklungshilfe dringend frisches Geld – das kann aber nur aus den Nachbarstaaten kommen. Mit dem deutlichen Rückgang der Drogenproduktion zeichnet sich bereits jetzt ab, daß die Gotteskrieger zumindest erste Schritte hin zu einer Normalisierung der Landwirtschaft unternommen haben. Statt Schlafmohn bauen afghanische Bauern nun wieder verstärkt Getreide und weitere Nutzpflanzen an.
Eine Entwicklung, die auf der einen Seite die Preise für Lebensmittel im Land auf ein erträgliches Maß absenken soll, auf der anderen Seite aber auch für einen Rückgang an Devisen sorgt. Während des Bürgerkrieges sorgte der Drogenexport für einen Großteil der Einnahmen der Aufständischen. Neben wirtschaftlichen Erwägungen dürfte auch iranischer Druck für den Rückgang des Anbaus sorgen. Der Iran leidet als Transitland seit Jahrzehnten unter den niedrigen Preisen des Schmuggelguts. Weite Teile der Bevölkerung in den Grenzregionen gelten als abhängig.
Taliban wollen sich als verläßliche Wirtschaftspartner inszenieren
Neben dem Kurswechsel in der Agrarpolitik, setzt die Regierung in Kabul auch auf Verträge mit seinen Nachbarstaaten. Etwa 2,25 Milliarden Euro soll ein Investitionsschutzabkommen mit Usbekistan in das Land bringen. Die größte Hoffnung setzt man hingegen auf den mächtigen Nachbarn im Osten. China soll Milliarden in die Infrastruktur investieren, den Rohstoffabbau ankurbeln und dadurch Afghanistan als Lieferant für Kupfer und weitere Metalle sowie als Drehscheibe für internationalen Handel etablieren. Ein ambitionierter Plan, der bisher vor allem an der chinesischen Zurückhaltung scheitert.
Denn die KP-Regierung in Peking hat begründete Zweifel an der Stabilität des relativ kleinen Nachbarlandes. Sollte das Land erneut im Bürgerkrieg versinken, wären die chinesischen Investitionen fürs erste verloren. Eine Erfahrung, die das Land bereits 2008 machen mußte. Nach dem Zustandekommen eines Joint Ventures zum Abbau von Kupfer im Norden des Landes versank Afghanistan erneut im Chaos. Nun soll das Projekt erneut vorangetrieben werden. Vertreter der Taliban und der chinesischen Minenbetreiber eröffneten im Mai gemeinsam eine Straße in der Region.
Es sind vor allem die Taliban, die mit Nachdruck den Eindruck vermitteln wollen, verläßliche Partner zu sein. Dürfte der Leidensdruck hoch genug werden, könnten die leisen, aber nachdrücklichen Ermahnungen aus Teheran und Peking tatsächlich für eine Verbesserung der Lage afghanischer Frauen und Minderheiten sorgen. Es wäre ein Novum in der Region und ohne Zweifel nachhaltiger als weitere Resolutionen im weit entfernten Europäischen Parlament.
Unterausschuß Menschenrechte im EU-Parlament:
www.europarl.europa.eu/committees/de/droi
www.kinderhilfe-afghanistan.de/ueber-uns