China steht beim Wettkampf um die globale Führung noch auf dem Feld, aber eigentlich hat das Reich der Mitte den Kampf schon verloren, meint der geopolitische Analyst Peter Zeihan. „Garbage Time“ – zu deutsch: verschwendete Zeit – nennt er das, was China jetzt noch hat, bis Peking eingestehen müsse, daß es im Kampf um die Vorherrschaft im 21. Jahrhundert nicht die Spitzenposition einnehmen werde. Der Begriff kommt aus dem Sport und meint die Zeit, die der unaufholbar zurückliegenden Mannschaft noch bleibt, um die Lage zu wenden. Und die sei eben bei all den Mißständen zu kurz, sagt der US-amerikanische Autor. China wird abspecken müssen.
Und besonders die eng mit dem dortigen Markt verbundenen deutschen Firmen bekommen jetzt schon die Problemen mit. Seit 2022 bricht der deutsche Export nach China zusammen. Von einem Höchststand von 106,76 Milliarden Euro waren 2023 nur noch 97,33 Milliarden Euro bei Ausfuhren erzielt worden. Dieses Jahr setzt sich der Trend fort. Im August 2024 wurde gar ein Rückgang der Exporte um 15,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat auf nur sieben Milliarden Euro von destatis vermeldet.
China baut weniger. China vergibt weniger Kredite. China fragt weniger nach. Nur wenig besser sieht der Professor für Volkswirtschaftslehre Reiner Osbild die Lage: „China durchläuft eine strukturelle Krise, die durch das Schrumpfen der Bau- und der Exportwirtschaft geprägt ist. Hier ist kurzfristig kein Ausgleich in Sicht.“ Fünf Prozent der Chinesen sind arbeitslos. Unter den jungen Chinesen ist die Arbeitslosigkeit prekär. 18,8 Prozent waren es im August. Im Mai hatte Präsident Xi Jinping den Kampf dagegen zur „absoluten Priorität“ erklärt. Im Juni 2023 hatte Peking allerdings die Berechnung verändert und die Publikation der Zahlen vorübergehend eingestellt. Damals waren es sogar 21,3 Prozent.
Auch in der Forschung will Peking nun aufschließen
Hinter allem steht letztlich ein demographisches Problem. „Der Binnenkonsum kann – auch wegen der Alterung der Bevölkerung – den Umbruch der Wirtschaft nicht leisten“, meint auch Osbild. Die Behörden registrieren über 800.000 mehr Todesfälle als Geburten. Noch herrscht die Kommunistische Partei Chinas über mehr als 1,4 Milliarden Menschen, doch diese Zahl schrumpft. Analysten chinesischer Statistiken vermuten sogar, daß es schon heute rund 100 Millionen weniger Chinesen gibt als von den Parteistatistikern angegeben. Zählungsfehler sind dokumentiert. Die Geburtenrate liegt bei 1,16 Kindern pro Frau.
Eine hohe Kinderzahl, einst ein Garant für ein Auskommen im Alter, erkannte die Kommunistische Partei in den 1970er Jahren als Hemmnis für einen schnellen Aufstieg. Die berüchtigte Ein-Kind-Politik begann. Noch 2022 gaben in Umfragen 57 Prozent der Chinesen an, nicht mehr als ein Kind zu wollen, obwohl die Regelung seit 2015 aufgeweicht worden war. 40 Prozent wollten maximal zwei Kinder. Das Durchschnittsalter in China liegt derzeit bei 37,9 Jahren und hat sich seit 1970 verdoppelt. Statistiker rechnen damit, daß das Durchschnittsalter bis 2050 auf fast 50 Jahre steigen wird. Schon heute ist jeder fünfte Chinese Rentner. Ab 2030 wird es mehr Rentner als Erwerbstätige geben.
Ein Umsteuern ist also unvermeidlich. Nur wohin? „Investiert wurde schon davor eher zu viel als zu wenig,“ erklärt Osbild. Jetzt komme es darauf an, ob der Staat mit einer immensen Verschuldung erneut einspringe, oder ob er sich aus der Wirtschaft zurückziehe, um Unternehmen und Märkten Raum zu verschaffen. Die Kommunistische Partei will China in jedem Fall bis 2050 zu einer sozialistischen Weltmacht machen, die in allen wichtigen Bereichen wie Politik, Kultur, Ökologie und Forschung führend ist. Präsident Xi Jinping, der diese Vision vorantreibt, beschreibt das Ziel einer „lebendigen, harmonischen und geordneten“ Gesellschaft im Jahr 2035, die bereit ist, eine globale Führungsrolle zu übernehmen. Bis dahin soll China auch „der weltweit führende Innovator“ sein.
In einiger Hinsicht konnte China aufschließen und von der Werkbank der Welt zur hochautomatisierten Fabrikhalle werden, wie etwa der Index der wirtschaftlichen Komplexität (Economic Complexity Index) zeigt, in dem China bis 2012 erstmals zur Spitze aufschloß und auf einen Index-Wert über 1,2 kam. Ökonomien, die die Technologie und das Wissen haben, hochkomplexe Produkte herzustellen (z.B. Mikroskope, Foto-Filme, Werkzeugmaschinen, etc.) erreichen höhere Werte. 2021 war China bereits bei 1,33. Deutschland hingegen steigt ab vom 2. Platz mit 2,38 im Jahr 2000 auf den vierten Platz mit 1,94 in 2021. Spitzenreiter bleibt Japan, das trotzdem industrielle Fähigkeiten einbüßt (vom Indexwert 2,82 auf 2,26).
Während das Reich der Mitte also wirtschaftlich aufgeschlossen hat, ziel es nun darauf ab, die Forschung zu dominieren. Die Zahl der Einreichungen wissenschaftlicher Arbeiten steigt rapide auf über eine Million in 2023. China produziert inzwischen mehr wissenschaftliche Fachartikel als die USA mit 700.000. Es hat seinen Ausstoß von 2012 bis 2022 verdreifacht. Nur die Staaten der EU können gemeinsam mit 1,1 Millionen Artikeln noch mehr aufbieten.
Die in der Wissenschaft wichtige Kennzahl der Häufigkeit an Zitierungen in publizierten Arbeiten treiben vor allem andere chinesische Artikel hoch, so daß China einen außergewöhnlich hohen Wert an Zitierungen innerhalb des Landes aufweist, was auch auf die häufigen Publikationen auf Chinesisch zurückzuführen ist. Das Verhalten der Wissenschaftler wurde durch chinesische Institutionen getrieben, die hohe Publikationsquoten forderten und im Gegenzug finanzielle Boni boten. Zitate ohne wissenschaftlichen Mehrwert und Plagiate waren die Folge. Seit dem Jahr 2020 sollen diese Praktiken aber eingestellt werden, bestimmte Chinas Wissenschaftsministerium. Auch soll der Anteil englischsprachiger Artikel steigen, um die Relevanz und Zitierbarkeit für Wissenschaftler weltweit zu erhöhen. Ob die Maßnahmen China aufs Spielfeld zurückbringen können, ist fraglich und hängt davon ab, wie schnell der demographische Unterbau schwindet.