Das mit der Zeitenwende hatten sich viele in der Bundeswehr vermutlich anders vorgestellt. Da hatte Bundeskanzler Olaf Scholz als Reaktion auf Rußlands Angriff auf die Ukraine Ende Februar 2022 angekündigt, die Streitkräfte künftig wieder so ausreichend zu finanzieren, daß sie ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Nato-Verbündeten erfüllen können.
Doch mittlerweile ist klar: Auch zweieinhalb Jahre nachdem die sicherheitspolitische Neuausrichtung ausgerufen wurde, reicht das Geld trotz des fast aufgebrauchten Sondervermögens in Höhe von hundert Milliarden Euro hinten und vorne nicht. Von einer ausreichenden Finanzierung, mit der die notwendige Wiederaufrüstung der Bundeswehr finanziert werden kann, ist die Truppe immer noch meilenweit entfernt. Bereits die chaotischen Verhandlungen der Ampel zum Bundeshaushalt im Sommer haben gezeigt, daß vom anfänglichen Elan von SPD, Grünen und FDP bei diesem Thema kaum noch etwas übrig ist. Zwar mußte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) keine Kürzungen seines Etats verkraften, doch der erhoffte Zuwachs fiel deutlich geringer aus als erwartet. Statt der von ihm angemeldeten 6,7 Milliarden Euro zusätzlich, kann Pistorius nur mit einem Plus von 1,2 Milliarden Euro rechnen. „Das ist ärgerlich für mich, weil ich bestimmte Dinge dann nicht in der Geschwindigkeit anstoßen kann, wie es Zeitenwende und Bedrohungslage erforderlich machen“, machte er Anfang Juli aus seiner Enttäuschung über die 53 Milliarden Euro, die die Bundeswehr nach den bisherigen Planungen im kommenden Jahr zur Verfügung stehen sollen, keinen Hehl.
Eine nun veröffentlichte Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) macht deutlich, welche Konsequenzen die vom Minister beklagte mangelnde „Geschwindigkeit“ bei der Aufrüstung der deutschen Streitkräfte hat. „Die Ausgaben der Ampelregierung für die Bundeswehr sind angesichts der aktuellen Bedrohungslage durch Rußland und nach Jahrzehnten der Abrüstung völlig unzureichend“, heißt es in dem Papier mit dem Titel „Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Europas und Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Rußland“.
Hinzu komme ein desolates Beschaffungswesen. „Um Militärbestände von vor 20 Jahren zu erreichen, bräuchte Deutschland beim aktuellen Beschaffungstempo bis zu knapp 100 Jahre“, lautet die schonungslose Bestandsaufnahme der Wissenschaftler, die vorrechnen, daß die wachsenden russischen Rüstungskapazitäten, die gesamte Menge der deutschen Waffenbestände in nur gut einem halben Jahr produzieren. Gleichzeitig schaffe es die Bundesregierung gegenwärtig nur knapp, die an die Ukraine abfließenden Waffen zu ersetzen. Bei Luftverteidigungssystemen und mobilen Abschußeinheiten (Artillerie-Haubitzen) sei der Bestand sogar deutlich rückläufig.
Der Hauptautor der Studie, Guntram Wolff, zieht klare Schlüsse aus der Analyse: „Was Europa jetzt braucht, ist neben dem Sondervermögen eine dauerhafte, deutliche und sofortige Erhöhung der regulären deutschen Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent des BIP. Man muß es so deutlich sagen: Ein Weiter-so-wie-bisher wäre mit Blick auf Rußlands Aggression fahrlässig und verantwortungslos.“ Der Blick in die in den vergangenen Jahrzehnten geplünderten Kasernen und Depots der Bundeswehr macht das ganze Ausmaß deutlich: Beim gegenwärtigen Beschaffungstempo wären die 2004er-Bestände bei Kampfjets in rund 15 Jahren, bei Kampfpanzern in rund 40 und bei Artillerie-Haubitzen erst in fast hundert Jahren erreicht. Hatte das Heer 2004 noch 2.389 Kampfpanzer im Bestand, waren es im vergangenen Jahr noch 339. Bei einer durchschnittlichen Bestellrate von knapp 50 Panzern pro Jahr hätte die Bundeswehr 2066 wieder so viele Panzer in den Kasernen wie 2004, haben die Forscher berechnet. Bei den Haubitzen wäre der Bestand von vor 20 Jahren, als die Truppe noch über 978 statt der heute noch 121 Geschütze verfügte, angesichts einer Beschaffung von knapp neun Panzerhaubitzen pro Jahr erst wieder im Jahr 2121 erreicht.
Kleine Mengen bedeuten hohe Stückpreise
Als eine Ursache für dieses rüstungspolitische Schneckentempo haben die Verfasser der Studie die Haushaltsplanung ausgemacht. Diese biete nicht genügend Anreize für die Militärindustrie, ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, weil unklar ist, wieviel Geld Deutschland nach Auslaufen des Sondervermögens für Verteidigung ausgeben will und kann. Die Folge seien lange Lieferzeiten und hohe Kosten. „Langfristige Planbarkeit und ein effizientes Beschaffungssystem sind essentiell für den Aufbau von industriellen Kapazitäten“, machte Wolff deutlich. Die Beschaffung von Rüstungsgütern für die Bundeswehr sei zudem unnötig teuer, weil nur in kleinen Mengen geordert werde, was höhere Stückpreise bedeute als bei Großbestellungen. Ungeachtet der Kosten kämen vor allem heimische Produzenten zum Zuge. Die effizienteste Lösung wäre eine europäische Einkaufsgemeinschaft.
Während sich die Politik immer noch schwertut, die sicherheitspolitische Zeitenwende umzusetzen, hat die deutsche Rüstungsindustrie die Zeichen der Zeit längst erkannt. In den kommenden Jahren wollen die führenden Unternehmen ihre Kapazitäten deutlich ausweiten, hatten diese bereits Anfang des Jahres verkündet. Die Stückzahlen von Großgeräten wie gepanzerten Fahrzeugen, aber auch von Munition wie Granaten und Raketen sollen massiv steigen, berichtet das Handelsblatt. Demnach werden die Firmen KMW und Rheinmetall die Produktion von Leopard-Kampfpanzern auf rund hundert Stück pro Jahr verdoppeln. Der Hersteller Diehl will zudem die Zahl der Flugabwehrsysteme Iris-T verdreifachen. Doch nicht nur die Rüstungsunternehmen wissen: Größere Fertigungskapazitäten nützen nichts, wenn die Aufträge der Bundeswehr ausbleiben, weil es an Geld fehlt.