© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/24 / 27. September 2024

„Sonst holt die AfD vierzig Prozent“
Interview: Kaum ein CDU-Parlamentarier traut sich auszusprechen, was viele denken: Die Brandmauer muß weg! Eine Ausnahme ist die Thüringer Landtagsabgeordnete Martina Schweinsburg. Offen stellt sie sich gegen den Beschluß ihrer Partei
Moritz Schwarz

Frau Schweinsburg, bevor er den Ministerpräsidenten wählen kann, muß der neue Thüringer Landtag einen Landtagspräsidenten bestimmen. Sie haben für einen AfD-Abgeordneten plädiert. Warum?

Martina Schweinsburg: Das habe ich nicht. 

Aber so schreibt es der „Stern“.

Schweinsburg: Der Stern hat nie ein Gespräch mit mir geführt, sondern „nur“ von anderen abgeschrieben, noch dazu nicht korrekt. 

Warum behauptet der „Stern“ es dann anders?

Schweinsburg: Das weiß ich nicht. Aber hier beginnt bereits meine dringende Aufforderung, mit Menschen zu reden, bevor man über sie schreibt, urteilt oder vielleicht sie sogar verurteilt.

Und was haben Sie tatsächlich gesagt?

Schweinsburg: Daß, sollte die AfD, der als größter Fraktion das Vorschlagsrecht zusteht, einen vernünftigen Kandidaten präsentieren, sein Parteibuch für mich eine untergeordnete Rolle spielt. 

Selbst das reicht heute schon, um für Schlagzeilen zu sorgen.

Schweinsburg: Was nicht meine Absicht war. Es geht mir einfach um ein vernünftiges Verfahren. 

Für Schlagzeilen hat auch gesorgt, daß Sie sich für Sondierungsgespräche mit der AfD ausgesprochen haben. 

Schweinsburg: Auch das ist falsch. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß wir als Demokraten dem Wähler gegenüber verpflichtet sind, seine Wahl zu respektieren. Woraus sich ergibt, daß alle gewählten Parteien miteinander reden können müssen. 

Also doch Sondierungsgespräche.

Schweinsburg: Das ist eine mögliche Form, aber keineswegs die einzige. Das Reden kann ebenso dazu führen, daß sich die Aufnahme von Sondierungsgesprächen erledigt. Aber dazu muß eben vernünftigerweise erstmal miteinander gesprochen werden, um festzustellen, wo der andere steht! Ich habe im Grunde nichts anderes getan, als eine demokratische Selbstverständlichkeit anzumahnen. 

Wie war die Reaktion darauf?

Schweinsburg: Überwiegend positive Bürgerzuschriften aus den neuen Bundesländern, gemischte aus den alten. Inklusive der Aufforderung, ich solle aus der Partei austreten und doch zur AfD gehen. Was völliger Unfug ist, weil es darum gar nicht geht. 

Die Tagesschau wirft Ihnen vor, zu „provozieren“.

Schweinsburg: So ein Unsinn, aber was die Medien angeht, so gab es schon früher Journalisten, die mich in die AfD-Ecke zu schieben versucht haben, was aber diesmal, soweit ich es verfolgt habe, erfreulicherweise weitgehend ausgeblieben ist.

Was ist mit Ihrer Partei? Kein Anruf aus dem Berliner Konrad-Adenauer-Haus oder Ihres Landesvorsitzenden Mario Voigt?

Schweinsburg: Nein. Und um ehrlich zu sein, bedauere ich das auch nicht. Denn wenn ich etwas gelernt habe, dann daß selten sachlich und kameradschaftlich gestritten wird, also im Bewußtsein, daß es auch der andere gut meint, sondern daß Kontroversen meist ins Antagonistische entgleiten.

Sie meinen in der Politik?

Schweinsburg: Ich meine ganz allgemein. Ich habe erkannt, wie sehr ich als Deutsche dazu erzogen worden bin, andere von meiner Meinung überzeugen zu wollen. Dank Freunden im arabischen Raum konnte ich die Erfahrung machen, daß dort der bei uns so ausgeprägte Agitationsmodus viel geringer ist. Dort heißt es viel eher: In der Sache kommen wir nicht zueinander, also klammern wir das eben aus und bleiben Freunde.

Sie haben bereits früher gesagt: „Ich halte die gesamte Debatte über die Brandmauer für Blödsinn.“ Warum?

Schweinsburg: Weil die CDU damit im Osten wie ein Hamster im Rad läuft. Oder, um es als Veterinärin mit einem Vergleich aus meinem Fach auf den Punkt zu bringen: Sie können einen Hengst nicht kastrieren und erwarten, daß er Fohlen zeugt. Es mag sein, daß die Brandmauer in den alten Bundesländern funktioniert, hier tut sie es nicht. 

Aber Bundestagswahlen werden ... 

Schweinsburg: ... nun mal nicht im Osten, sondern im Westen gewonnen – ich weiß! Mir ist klar, daß allein NRW mehr Einwohner hat als alle neuen Länder zusammen. Aber bei dieser Weisheit wird eines völlig vergessen: Bundestagswahlen werden zwar im Osten nicht gewonnen, wohl aber verloren!

Inwiefern?

Schweinsburg: Indem hier die entscheidenden Prozente verspielt werden. Man muß endlich mal zur Kenntnis nehmen, was der Wähler zum Ausdruck bringen will, wenn er etwa in Thüringen mit 32,8 Prozent AfD und 15,8 Prozent BSW wählt oder nun in Brandenburg 29 und 13,5 Prozent! 

Nämlich?

Schweinsburg: Respektiert uns endlich! Aber die Abgehobenheit „der da oben“, wie die Leute hier sagen, ist mittlerweile so groß, daß das, was Politiker ab Landes- und bis zur Bundesebene denken und sagen, oft kaum noch in Übereinstimmung mit der Lebenswelt der normalen Menschen im Land steht. 

Sie sind doch auch Politikerin.

Schweinsburg: Aber als Landrätin hat man einen engen Draht zur Bevölkerung. Wenn ich höre, daß die Leute von „denen da oben“ sprechen, habe ich selbst schon angemerkt: „Ich bin auch Politikerin.“ Worauf die Antwort kommt: „Schon, aber doch keine von ‘denen da oben’.“ 

Ist das der Grund, warum man Sie innerparteilich nicht maßregelt, weil Sie beim Wähler zu populär sind? 

Schweinsburg: Wohl eher, weil ich als Provinzpolitikerin zu unbedeutend bin.

Sie sind seit 1990 Mitglied der Thüringer Union, haben zwei Jahre im Landesvorstand gesessen, waren 34 Jahre Landrätin und wurden als solche dank Ihrer kritischen öffentlichen Wortmeldungen in den letzten Jahren in den Medien bekannt. Und schließlich hat Sie CDU-Landeschef und -Spitzenkandidat Mario Voigt für den Thüringer Wahlkampf in sein Expertenteam, quasi ein Schattenkabinett, geholt. Sie sind offensichtlich eine Stimme, die man hört.

Schweinsburg: Und trotzdem mit meinem Alter ein Auslaufmodell. An mir arbeiten sich die jungen Leute, die in der Politik noch etwas werden wollen, nicht ab. Zumal sie vielleicht auch das Gefühl haben: so ganz unrecht hat sie nicht.

Wie viele in der CDU denken in Wahrheit wie Sie?

Schweinsburg: „Die“ CDU gibt es nicht, die Partei ist in den Städten anders als im ländlichen Raum, und nur über den kann ich etwas sagen: Dort teilen die Position, man sollte mit allen, auch BSW, Linker und AfD grundsätzlich sprechen, schätzungsweise siebzig bis achtzig Prozent. 

Und wieso sind Sie dann außer Ihrem Fraktionskollegen Michael Heym die einzige, die das auch sagt?

Schweinsburg: Das sind wir nicht – na gut, vielleicht in der Fraktion. Wobei mir auch da schon unter der Hand anderes gesagt wurde, aber die Kollegen sind eben vorsichtig.

Was ist mit dem Beschluß des Bundesvorstands, der jede Zusammenarbeit mit AfD und Linken verbietet?

Schweinsburg: Ich halte ihn für kontraproduktiv.

Ja, aber sein Wortlaut behauptet auch nicht, von Vorteil für die Partei zu sein, vielmehr argumentiert er ethisch: AfD und Linke kämen aus Gründen der Moral für die CDU nicht in Betracht. Was sagen Sie dazu?

Schweinsburg: Ich bin skeptisch gegenüber dem Anspruch, im Besitz einer höheren Moral oder Wahrheit zu sein. Leider aber zeigt sich solch eine Einstellung in Teilen der Partei nun auch noch gegenüber dem BSW, etwa weil es gegen die Unterstützung der Ukraine ist. Nun, zwei Drittel der Wähler im Osten sind dafür, die Militärhilfe für Kiew einzustellen, weil sie finden, daß wir das Geld dringend für anderes brauchen. Wollen wir wirklich all diesen Bürgern die Türe vor der Nase zuschlagen? Sie am besten von der Debatte ausschließen? Sollten wir als Demokraten nicht vielmehr versuchen, zu verstehen, was sie bewegt? Etwa die Angst, der Krieg könne sich unkontrollierbar ausweiten. Viele sind nun einmal noch von klein auf damit aufgewachsen, daß der nächste Krieg zwischen Ost und West auf deutschem Boden stattfindet – mit absolut katastrophalen Konsequenzen, von denen ihnen noch sehr lebendig ihre Eltern oder Großeltern erzählt haben. Es ist dieser Hochmut, zusammen mit dem ständigen Bashing, das AfD und BSW den Nimbus eines Opfers verleiht, und sie hier so stark gemacht hat. Und das Beste, was wir gegen sie tun können, ist mit ihnen zu reden, sie beim Wort zu nehmen, denn dann müssen sie zeigen, was sie können. Ein Höcke etwa lebt davon, gar nicht an die Macht zu kommen, sich aber dank der Medien produzieren zu können. 

Inwiefern?

Schweinsburg: Er wäre ein unbedeutender Provinzpolitiker, hätten die Medien nicht alles getan, um ihm die Rolle zu verschaffen, die er sich wünscht. Der Mann ist ein Narzißt mit Aufmerksamkeitsdefizit, das er befriedigt, indem er Sachen sagt, die niemanden interessieren würden, wenn die Medien sie nicht jedesmal so schön breitträten. Im Grunde machen sie unentwegt die PR-Arbeit für Höcke.

Die „FAZ“ kam jüngst in ihrem Portrait „Der nette Herr Höcke“ bezüglich der Medien zum gleichen Schluß. Allerdings macht sie als Antrieb Höckes nicht Narzißmus aus, sondern weltfremde Träumerei.

Schweinsburg: Ich kenne den Artikel nicht, habe Herrn Höcke aber selbst erlebt, etwa als Präsidentin des Thüringer Landkreistags, zu dessen Versammlung traditionell alle Parteien ein Grußwort sprechen. Das Thema war Kommunalfinanzen, worauf Höcke aber mit keiner Silbe einging. Stattdessen wiederholte er seinen Wahlkampfsermon, bis ich ihn zur Ordnung rufen mußte. Woraufhin er höchst artig fragte und fast als würde er dabei die Hacken zusammenknallen, ob er den Satz noch zu Ende sprechen dürfe. „Wenn Sie endlich zu unserem Thema überleiten, bitte.“ Da beendete er den Satz und sagte: im übrigen sei er der Meinung, die Landkreise sollten mehr Geld bekommen, Ende. Eine Farce!

Es ist kein Geheimnis, daß Höcke eigentlich nationale und nicht kommunale Politik machen möchte.

Schweinsburg: Oder nehmen Sie seine Idee einer Rückführung ausländischer Arbeitskräfte: Absurd, in unserem Krankenhaus arbeiten 26 Nationen, das können wir dann schließen!

Allerdings sagen AfD-Politiker, wann immer man sie fragt, es sei völliger Quatsch, daß man lang und gut integrierte Einwanderer remigrieren wolle – inklusive Höcke, zum Beispiel im TV-Duell mit Mario Voigt. Im Gegenteil, die meisten sagen Ihnen, daß sie sogar weitere Einwanderung befürworten, nur eine ganz andere als jetzt. Und so steht es auch im Parteiprogramm.

Schweinsburg: Die öffentliche Wahrnehmung ist eine andere. Und wann immer ich mir eine AfD-Veranstaltung angetan habe, war da viel Schimpfen, aber keinerlei Lösung. Allerdings habe ich an der Parteibasis auch vernünftige Leute kennengelernt. Doch die sind inzwischen innerparteilich kaltgestellt, und die übrigen fangen sofort an, einen zu beschimpfen. Da ist meine Bereitschaft, zu diskutieren natürlich gering. Sollten aber die Vernünftigen wiederkommen, wäre das anders. Und das ist mein Punkt: Es kommt nicht auf das Parteibuch an, sondern auf den Menschen! 

Gespräche mit der AfD würden die CDU vor eine Zerreißprobe stellen, könnte sich Ihr Landesverband das überhaupt leisten?

Schweinsburg: Die Frage ist, kann er sich leisten, das nicht zu tun? Vor zehn Jahren stand die AfD bei zwanzig Prozent, in zehn Jahren könnten es vierzig sein. Natürlich gibt es Stimmen in den Kreisverbänden, die drohen, wenn wir mit der AfD sprechen, treten sie aus, aber die gibt es ebenso hinsichtlich des BSW. 

Würde die CDU Ihrem Appell folgen und auch mit der AfD reden und deren Angebot würde überzeugen, würden Sie dann eine Koalition befürworten?

Schweinsburg: Ich treffe diese Entscheidung nicht und beneide Mario Voigt nicht darum, daß er es tun muß. Denn die Regierungsbildung ist eine Zwickmühle, und egal was er tut, er wird immer von einer Seite kritisiert und „verhauen“ werden. 

Voigt sagt, nicht mit der AfD. Wie also geht das aus?

Schweinsburg: Das weiß ich nicht. 

Schließt er die AfD aus, bleibt ihm nur eine Koalition oder Duldung mit SPD, BSW und Linker. Aber kann eine solche Regierung die Probleme das Landes lösen?

Schweinsburg: Natürlich wird das nicht leicht und ist nur möglich, wenn alle Seiten viel guten Willen zeigen, und wenn man nicht von einzelnen Abgeordneten abhängig ist, wie etwa einer linksradikalen Katharina König-Preuss oder Kleinparteien, wie den Grünen, mit ihren sektiererischen Steckenpferden. Denn die neue Regierung muß in der Lage sein, einen Schnitt gegenüber der alten zu machen und das Land voranzubringen.

Wie soll Voigt das im Bündnis mit lauter linken Parteien schaffen? Ist eine Koalition mit der AfD nicht der einzig realistische Weg, noch CDU-Politik zu machen?

Schweinsburg: Herr Schwarz, ich lasse mir das von Ihnen nicht in den Mund legen. Ich komme aus der Kommunalpolitik, wo wir gewohnt sind, uns Mehrheiten zu suchen. Das erfordert viel Geduld und Geschick, die muß die CDU unter Mario Voigt nun beweisen. Aber wie auch immer er entscheidet, wir nehmen diese Herausforderung an. 



Martina Schweinsburg: Bundesweit bekannt wurde die frischgebackene CDU-Landtagsabgeordnete sowie Präsidentin des Thüringer Landkreistags als streitbare und dienstälteste Landrätin Deutschlands, „die kein Blatt vor den Mund nimmt“ (FAZ). Mit ihrer Kritik an den Zumutungen der Politik gegenüber den Kommunen löste „die Landgräfin“ (Zeit) wiederholt Presseechos aus. Die 1958 in Gera geborene Veterinäringenieurin wurde 1990 erste freigewählte Landrätin im Kreis Zeulenroda, später Kreis Greiz, den sie bis 2024 führte. Nun errang sie im Wahlkreis Greiz I gegen die Zweitstimmenmehrheit der AfD das Direktmandat.