Es sind nicht die plumpen Entgleisungen, die beunruhigen sollten. Offensichtlicher Unsinn wird erkannt. Etwa wenn am Abend der Brandenburg-Wahl sich ZDF-Reporter Carsten Behrendt die Prognose von 4,5 Prozent für die Grünen als „Sieg auf der ganzen Linie“ zurechtphantasiert. Oder seine Chefredakteurin Bettina Schausten am Abend der Thüringer Landtagswahl den AfD-Erfolg in die Nähe des Wehrmachtsangriffs auf Polen im Jahr 1939 halluziniert. Oder „Monitor“-Chef Georg Restle (ARD) jüngst den unkontrollierten Millionenstrom von Migranten nach Deutschland kontrafaktisch als folgenlos für Wohnungsmarkt und Infrastruktur wegmoderiert.
So etwas mag als intellektueller Blackout durchgehen, mutmaßlich milieubedingt und insofern zwar bezeichnend – aber wegen himmelschreiender Dummheit sich selbst dementierend. Anders verhält es sich mit einem Talk- und Spielshow-Projekt der ARD, das unter dem Titel „Die 100 – was Deutschland bewegt“ jetzt im Ersten Fernsehprogramm der ARD in den Verdacht inszenierter Meinungsmache geriet.
Mindestens einer der angeblich „zufällig“ ausgewählten 100 „Bürger“ dieser „Spielshow“ zum Thema „Ist die AfD eigentlich ein Problem für die Demokratie?“ war ein professioneller Statist. Und ausgerechnet dieser durfte als geläuterter AfD-Sympathisant im Schlußwort erklären, warum er gelernt habe, im Verlauf der Sendung die AfD als „Problem für die Demokratie“ einzuschätzen. Als Stellvertreter einer Zweidrittelmehrheit ebenso AfD-kritischer Mitspieler, versteht sich.
Doch auch hier interessiert weniger der plumpe Fauxpas, einen schnell zu entlarvenden Meinungsdarsteller auftreten zu lassen – wenn es denn so war, was der federführende NDR bestreitet – viel problematischer ist das zugrundeliegende Konzept. Für „Die 100“ mußte und muß auch künftig eine Sendung von „hart aber fair“ weichen. Statt demokratisch legitimierte Repräsentanten mit journalistisch anspruchsvoller Moderation in Sachfragen zu konfrontieren, wird eine Art Bürgerratsfernsehen inszeniert. Dabei reden gleich drei Moderatoren auf eine scheinrepräsentative Menge von „Bürgern“ ein und bombardieren sie mit kontextlosen Politikerzitaten. Ein daraus „gelerntes“ Meinungsbild wird als Bürgervotum verkauft – das jeglicher Transparenz entbehrt. Weder die Auswahl der „Bürger“ noch ihr jeweiliger Hintergrund oder die Wertigkeit der „Lehrmittel“ sind für das Fernsehpublikum nachvollziehbar.
Dieses Vorgehen hat Methode. Denn „Die 100“-TV-Show ist eine Art mediales Flaggschiff eines noch viel größeren Projekts der politischen Meinungspflege. Seit den drei Parteien der Ampel-Koalition bei so ziemlich jedem Thema ein vernichtendes Meinungsklima entgegenschlägt, machen sie sich die veröffentlichte Meinung lieber selbst. Dazu dienen nicht nur die über die Jahre verbrannten Steuer-Milliarden für sogenannte „Demokratieförderung“ an regierungsfreundliche NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen), was de facto einem legalisierten Parteispendenskandal gleichkommt. Der neueste Clou sind die sogenannten „Bürgerräte“.
Ursprünglich als überparteilich getragenes Projekt des Parlaments gestartet, sollen per Los ausgewählte Bürger die parlamentarische Arbeit kommunikativ flankieren und als „Demokratieverstärker“ die sinkende Akzeptanz der amtierenden Regierung heilen. Wobei ganz nebenbei die sinkende Akzeptanz der Regierung als Mißtrauen in die Demokratie schlechthin geframt wird.
Auf die mediale Wirkmacht demokratisch legitimierter Kabniettsparlamentarier mag man sich wegen ihres demolierten Images nicht mehr verlassen. Sondern schiebt handverlesene „Bürger“ vor die Kameras. So liest sich die Empfehlung des im Februar dieses Jahres vorgestellten Bürgerratgutachtens „Ernährung im Wandel“ wie der Leitantrag eines Grünen-Parteitags.
Von der kostenfreien Massenspeisung über die Mehrwertsteuerbefreiung für Bio-Produkte bis zur Steuer für Fleischesser. Eine Inszenierung von Politik ohne Politiker, die von der Union erst sehr spät als „Entparlamentarisierung“ (Philipp Amthor) der Staatsführung erkannt wurde. Dieses Manöver fügt sich übrigens nahtlos ein in die Mißachtung der repräsentativen Demokratie, wie sie im Zuge der Wahlrechtsreform von der Ampel-Regierung mit der Relativierung des Direktmandats ins Werk gesetzt wurde.
Nun hat sogar die für rot-grüne Projekte stets aufgeschlossene Bertelsmann-Stiftung als eine Art Franchisenehmer der Ampelregierung einen Bürgerrat („Forum gegen Fakes“) tagen lassen. Dessen Aufgabe war, Desinformation im Internet bekämpfen zu helfen. Das „Bürgergutachten“ der Bertelsmänner empfiehlt, ausgerechnet die Fake-News-Akrobaten vom „Medienhaus Correctiv“ mit einem „Desinformationsranking“ zu beauftragen. Die Grünen waren spontan begeistert. Schließlich hatte „Correctiv“ mit seinem haltlosen Report vom angeblich geheimen Potsdamer Remigrationsgipfel wertvolle Dienste geleistet.
Die erst sehr späte Kritik der Union an dieser „scheindemokratischen Veranstaltung“ (Staatsrechtler Christoph Degenhart) der Bürgerräte mag mit ihrer Vorgeschichte zu tun haben. Es war Ex-Kanzlerin Angela Merkel, die in ihrer kommunikativen Not zu Zeiten von Flüchtlingskrise und Pegida im Jahr 2015 die „Bürgerdialoge“ erfinden ließ, bei denen freilich weniger ein Dialog als das Ausfüllen von Kärtchen geübt wurde. Auf diese durften handverlesene Bürger ihre Wünsche zum „guten Leben in Deutschland“ schreiben. Die Kanzlerin würdigte diese Notate dann summarisch. Merkel schrieb damals sogar Kanzleramtsstellen für Verhaltenspsychologen aus, und der Begriff „Nudging“ machte in ihren Kreisen die Runde. Der Begriff ist dem Produktmarketing entlehnt (dt. anstoßen, stubsen) und meint die unmerkliche Verhaltensbeeinflussung von Menschen. So spendet Segen noch immer die Hand.
Bertolt Brecht hätte sich wohl nicht träumen lassen, daß sein sarkastisch gemeinter Vorschlag nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 tatsächlich einmal praktische Anwendung finden würde. Damals empfahl er für den Fall, daß wenn „das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe“ es doch einfacher sei, „die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes“. Brechts luzide Fiktion nimmt heute tatsächlich Gestalt an – ein von der Regierung erwähltes Meinungs-Volk. In Politik und Mainstream-Medien werden „Bürger“-Avatare inszeniert, die das kommunizieren sollen, was von den Parlamentariern der Regierungsfraktionen niemand mehr hören will – mit einem unschätzbaren Vorteil: Avatare können keine Vertrauensfrage stellen.