Es sei an der Zeit, an Wladimir Solowjew, den bedeutendsten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, zu erinnern, überschreibt der Kieler Pfarrer und Publizist Dieter Müller den ersten Teil seines Essays „Der vergessene Antichrist“. Bereits Hans Urs von Balthasar hatte nach der Lektüre von dessen „Kurzer Erzählung vom Antichrist“ Solowjews Werk als „die universellste spekulative Schöpfung der Moderne“ bezeichnet.
In der Tat ist dessen Sicht auf die sich zum Ende hin entwickelnde Geschichte in der Perspektive der biblischen Offenbarung „eine erleuchtende Vision des glänzend schillernden Gutmenschen der Endzeit, der aus luziferischem Geist entsteht, sanft die Macht ergreift und den hingerissenen Menschen nichts weniger als Frieden und Wohlstand bringt“. Zwar erweist sich das Ende der Weltgeschichte und der Übergang in das Reich Gottes nicht als allmählicher Prozeß, wie Solowjew es früher erwartet hatte, sondern als gewaltsamer Bruch, dennoch verfällt ihm die große Mehrheit der Christenheit – Solowjew spricht von 99 Prozent – und nimmt damit die großen apokalyptischen Traditionen des biblischen Christentums auf, die er gegen den säkularen Fortschritts- und Entwicklungsoptimismus der aufgeklärten Moderne stellt. Der russische Philosoph beschreibt in seiner prophetischen Diagnose die Gestalten und Programme, in denen sich antichristlicher Geist verkörpert. Auf den Punkt gebracht besteht das Wesen des Antichristen, der aus der Mitte der Kirche kommt, in der Relativierung Gottes, damit der Mensch Raum gewinnt und selbst bestimmen kann, was Gott und was sein Wille ist. Der Mensch wird zum Maß aller Dinge, die Gebote verkommen zu Worthülsen, deren Inhalt er seinen jeweiligen Bedürfnissen anpaßt und durch allzu billige Gnade das eschatologische Gewicht entzieht. Solowjews Antichrist vergleicht sich mit Christus, bezeichnet sich als „Wohltäter der Menschheit“ und als „Meister der historisch-kritischen Bibelforschung“, die Jesus zum wahren Menschen macht und ihm so die wahre Gottheit entzieht. Er schafft ein Gottesreich ohne Christus und damit ohne Gott. Doch eine Kirche, die sich mehr für das Klima begeistert und den „Kampf gegen Rechts“ ist gewiß antichristlich infiziert, denn im Zentrum des Christentums hat die Person des Erlösers Jesus Christus zu stehen und nicht ein Parteiprogramm oder ideologische Spitzfindigkeiten.
Der Philosoph Harald Seubert setzt sich in seinem Beitrag „Der Antichrist – Überlegungen zu einem Typus eschatologischen Denkens“ dezidiert mit Friedrich Nietzsche auseinander, der sich in seiner letzten abgeschlossenen Schrift selbst als Antichrist bezeichnete. Jedoch gehöre der, der sich selbst als Antichrist begreift, und dies auch offen ausspricht, nicht nur in die Geschichte des Christentums, er schreie auch geradezu nach Erlösung. Zumal wenn man sich erinnert, daß es ja gerade die Lüge die Signatur des Antichrist sei, der auf keinen Fall als dieser erkannt werden wolle. Nietzsches verzweifelte Suche nach einem nicht auf Moral reduzierten Gott jenseits der Verkürzungen, die im Christentum selbst zu dessen Auflösung beigetragen haben, sei die bleibende Frage, die sein gesamtes Denken durchziehe. Denn während Nietzsche das Christentum in seiner selbstgewählten Rolle als Antichrist verächtlich mache, suche der Antichrist es zu imitieren. Tatsächlich wußte der Pastorensohn mehr vom Bösen als die meisten Philosophen seiner Zeit, scheiterte jedoch auf eine wirklich tragische Weise am Nazarener. Der gläubige Christ könnte also von Nietzsche manches lernen, wenn er endlich aufhören würde, ihn zu verteufeln.
In Carl Schmitt sieht Seubert „einen späten, eminenten, aber zugleich höchst fraglichen Denker des Antichrist“. Höchste Evidenz hat für Schmitt der Katechon, der Aufhalter des Antichrist, denn wäre sonst das Verderben im Endgeschehen nicht schon längst ausgebrochen. Diese Kraft sah Schmitt in Rom, der Respublica Christiana und der übernationalen Reichsidee als geschichtliche Macht, denn das Ende der Kirche war für ihn gekommen, als Paul VI. vor der Uno sprach. Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Diskussion zwischen Schmitt und Alvaro d’Ors zu erwähnen, da der spanische Gelehrte die Katechon-Theorie verwarf, der Christ habe seine einzige Hoffnung auf die baldige Wiederkunft des Erlösers zu setzen.
Helmut Matthies, Dieter Müller, Manfred Seitz (†), Harald Seubert, Andreas Späth (Hrsg.): Antichrist, Endzeit und die Gemeinde Jesu. Verlag Logos Editions, Ansbach 2024, broschiert, 393 Seiten, 9,95 Euro