Im biographischen Teil seines Nachrufs auf den Lehrer und Freund, den im Oktober 1973 verstorbenen Philosophen Leo Strauss, kann sich Allan Bloom kurz fassen. Ist doch die Geschichte eines Lebens, dessen einzig wahre Ereignisse Gedanken waren, schnell erzählt.
Geboren am 20. September 1899 im hessischen Kirchhain, besucht das Kind einer jüdisch-orthodoxen Kaufmannsfamilie das Humanistische Gymnasium Philippinum in Marburg, dient als Soldat an der Westfront, studiert Philosophie und Naturwissenschaften und promoviert 1921 über den Gegenaufklärer Friedrich Heinrich Jacobi, beim wenig geschätzten Ernst Cassirer.
Zum existentiellen, bekehrungshaften Erlebnis wird die Philosophie für den Postdoktoranden erst während des Studiums bei Martin Heidegger, dessen einzigartige Intensität des Denkens, Lesens und Deutens der Texte von Platon und Aristoteles Strauss die entscheidenden Impulse für seinen späteren modernekritischen, tiefenhermeneutischen Zugriff auf die antike politische Philosophie vermittelt.
Sich zum Zionismus bekennend, arbeitet Strauss in den 1920ern an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, gibt dort die Schriften Moses Mendelssohns mit heraus und legt 1930 eine Monographie über die Religionskritik Spinozas vor, die ihn, unterstützt durch ein Gutachten Carl Schmitts, der Rockefeller-Stiftung empfiehlt. Als deren 1933 nicht nach Deutschland zurückkehrender Stipendiat führt er ein unauffälliges Dasein als „Vertreter teutonischer Gelehrsamkeit“ (Alfons Söllner), zunächst in Paris und Cambridge, wo er 1936 seine Studien zur politischen Philosophie von Thomas Hobbes abschließt und sich in das Werk des spätmittelalterlichen jüdischen Aufklärers Moses Maimonides vertieft.
Die Werte dekonstruierenden Eliten landen im Nihilismus
1938 wechselt Strauss an die New School for Social Research nach New York und geht 1949 als Professor für politische Theorie an die Universität Chicago, wo er eine akademische Schule gründet und enormen politischen Einfluß gewinnt. Obwohl sich diese ganz den philologischen Feinanalysen Sokrates‘, Platons und des in der deutschen Altertumswissenschaft als „Reiteroberst“ (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) verachteten Sokrates-Adepten Xenophon weit von Realitäten des Kalten Krieges zu entfalten scheinen.
Den Nimbus der rätselhaften „Sphinx der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts“ (Henning Ottmann) verdankt Strauss diesen esoterisch wirkenden, umständlichen, nicht selten ermüdenden und kryptisch formulierten Exegesen kanonischer bis – wie im Falle Xenophons – abseitiger antiker Texte. Diesem Strauss hat Allan Blooms Freund, der Literaturnobelpreisträger Saul Bellow, in seinem Roman „Ravelstein“ (2000) in der Person des schmächtigen Professors Felix Davarr ein Denkmal gesetzt. Stets „dreifach abwesend“, hinter dicken Brillengläsern verborgen, wandert der überall verhaßte Davarr als dämonischer, Maimonides und Machiavelli traktierender und deren Geheimnisse nur portionsweise preisgebender Häretiker durch den Text. Und doch steht diese mit Sympathie gezeichnete Karikatur eines weltfremden Grottenolms für die einflußreichste Bezugsfigur des US-Konservatismus, für das erstaunlichste Rezeptionsphänomen des amerikanischen akademischen Lebens nach 1945.
Früh eingebunden in ein seit den 1950ern geknüpftes engmaschiges Netzwerk aus Denkfabriken, Stiftungen und Zeitschriften, tragen Strauss und das Heer seiner Schüler, die „LeoCons“, entscheidend dazu bei, daß die intellektuell ausgelaugte Republikanische Partei zu Beginn der Ära Reagan-Bush bereit ist, die kulturelle Hegemonie zu erringen und damit, sich auf Nation, Religion, Common Sense besinnend, die ideologische Basis zu schaffen, um dem sowjetischen „Reich des Bösen“ den Todesstoß zu versetzen. Die „Straussians“ üben dabei nicht nur Meinungsmacht aus. Unter den Präsidenten Reagan, Bush sen. und, nach dem Clinton-Intermezzo, Bush jun. rücken ein Dutzend der engsten Strauss-Schüler in hohe Regierungsämter im Außenministerium, im Pentagon und den Geheimdiensten ein, unter ihnen Robert Kagan, Mitbegründer der einflußreichen neokonservativen Denkfabrik Project for the New American Century (PNAC), dem stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz und Pentagon-Geheimdienstexperte Abram Shulsky, die strategischen Planer eines „Neuen Amerikanischen Jahrhunderts“ und die Vordenker des Irak-Krieges.
Was machte die politische Philosophie des deutsch-jüdischen Emigranten Strauss so attraktiv, daß er geradewegs zur neokonservativen Kultfigur aufstieg? Es ist das Versprechen des Theoretikers, mit jenem „Relativismus“ Schluß zu machen, den Allan Bloom in seiner eine Million Mal verkauften, authentischen Strauss transportierenden Dekadenzdiagnose „The Closing of the American Mind“ (1987) für den Niedergang der amerikanischen Weltmacht und den Zerfall der US-Gesellschaft verantwortlich macht. Relativismus besagt, daß es keine überpersonalen, zeitlich wie räumlich universalen, also absolut geltenden Wahrheiten und Werte gibt, weil alles dem historischen Wandel unterworfen ist.
Strauss hat, wie das Gros aller kulturkritisch ambitionierten bedeutenden Denker zwischen 1850 und 1950, unter diesem Relativismus psychisch gelitten und ihn 1932 als Symptom der „geistigen Lage der Gegenwart“ skizziert: Der moderne „Polytheismus der Werte“, die in Religion und Moral herrschende „faktische Anarchie“, erlaube kein „allgemein-verbindliches Wissen mehr über das richtige Leben“. Es fehle daher ein unverrückbarer Maßstab, eine „Ordnung der Ordnung“ (Harald Bluhm, 2002), um die Auflösung der westlichen Zivilisation zu verhindern. Ihre Wahrheiten und Werte „dekonstruierenden“ Eliten landen letztlich im Nihilismus, der keine Unterscheidung mehr zwischen Hochkultur und Kannibalismus gestatte. Darum empört sich Strauss bereits 1932 über das „auf dem Bauch liegen vor allem Exotischen“, das das Bewußtsein der völligen Gleichberechtigung außereuropäischer sowie die Verachtung europäischer Ideale und der von den Griechen begründeten Tradition nähre, was den Willen zur Selbstbehauptung schwäche.
Ungeachtet dieser Einsicht, daß sich im Zeitalter des Relativismus kein archimedischer Punkt mehr ansteuern lasse, glaubte Strauss in den angeblich der Natur des Menschen am meisten entsprechenden antiken Ordnungen des Zusammenlebens einen solchen Pfeiler im Zeitenstrom gesichtet zu haben. Aber wie alle „Kulturkritiker“ zeigt sich Strauss in der Diagnose stark, in der Therapie schwach. Denn hinter einmal überschrittene Bewußtseinsgrenzen kann niemand zurückgehen, sobald die Substanz des Glaubens aufgezehrt, die Kette der Überlieferung gerissen ist (Jacob Taubes). „Renaissancen“ und „geistig-moralische“ Wendezeiten sind daher wie jede „Zurück zu“-Bewegung regelmäßig nur von kurzer Dauer.
Bildungsaristokratie als Rückgrat des fragilen, liberalen US-Systems
So weist auch Strauss’ angestrengte Suche nach der besten Ordnung in einem postlibertären Pluriversum der Völker und Kulturen mit ihrem Rückgriff auf die Antike kaum eine realistische, dem Treibsand des Relativismus trotzende Perspektive auf. Sie endet letztlich sogar in einer „in ihrem Kern unpolitischen Theorie des Politischen“ (Harald Bluhm), da Strauss die höchste Existenzform nicht in der Vita activa sieht wie die ebenso auf vorbildliche antike Polis-Ordnungen fixierte Hannah Arendt, sondern mit Aristoteles („Nikomachische Ethik“) in der Teilhabe am Göttlichen verheißenden Vita contemplativa. Ein der Suche nach der Wahrheit und dem Guten gewidmetes „eigentliches und wesentliches“ Dasein ist allerdings nur für wenige philosophisch Begabte erstrebenswert, die ihr Lebensideal darin sehen, sich denkend selbst zu verwirklichen.
Für sie führt nicht der politisch Handelnde, sondern der philosophisch Betrachtende das glücklichere Leben. Was von dieser Position aus allein in konkrete Politik zu übersetzen wäre, ist für Strauss begrenzt auf den Sektor Erziehung und Bildung. Vorstellungen davon nimmt der US-Neubürger aus Deutschland mit, wo der vom Berliner Gräzisten Werner Jaeger initiierte und vom preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker protegierte „Dritte Humanismus“ seinen Beitrag zur ideellen Integration der Weimarer „Demokratie ohne Demokraten“ leisten sollte. Nach diesem Muster richtete Strauss’ seine bildungspolitischen Reformhoffnungen auf die in der demokratischen Massengesellschaft zu organisierende „Erziehung der Erzieher“, einer vom Ethos des „ursprünglichen Griechentums“ erfüllten Bildungsaristokratie als Rückgrat des fragilen, durch ethnische, soziale und ökonomische Gegensätze bedrohten liberalen US-Systems. Und als Gegengewicht zu jenen von der Gleichheitsideologie entfesselten Fliehkräften, die konsequent vom Nationalstaat zur grenzenlos globalen Konsumgesellschaft des Weltstaats drängten.
Das damit anbrechende „Ende der Geschichte“, mit dem der Hegelianer, Stalin-Verehrer und Vordenker des EU-Superstaats Alexandre Kojève den Freund und einstigen Berliner Kommilitonen Strauss zu erschrecken pflegte, das der Bloom-Schüler Francis Fukuyama nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums nahe wähnte und das sich heute in den Technologievisionen des Transhumanismus kondensiert, war für Leo Strauss schlicht das Ende der Menschheit.
Foto: Leo Strauss: Empört über das „auf dem Bauch liegen vor allem Exotischen“, das die Verachtung europäischer Ideale nähre