© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/24 / 20. September 2024

Absage an die Revolution
Serie Bewegende Köpfe, Teil 18: Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein erkannte, daß freie Märkte auch der Arbeiterschaft nutzen
Rainer F. Schmidt

Ein kleiner, schmächtiger Mann mit Hakennase, Vollbart und Nickelbrille spürte als erster den Wind der Veränderung. Als Bankangestellter hatte Eduard Bernstein schon im Alter von 19 wegen einer Anklage auf Anstiftung zum Aufruhr in die Schweiz ins Exil gehen müssen. Dort hatte er eine Zeitung verlegt, die den Beifall von Marx und Engels gefunden hatte. Dann war er nach London weitergezogen, wo er die Ideen der Fabian Society, einer sozialistischen Bewegung von Intellektuellen und Wegbereitern der britischen Labour Party, kennengelernt hatte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte er begriffen, daß die Geschichte nicht dem Pfad folgte, den ihr Karl Marx in der Bibel des Kommunismus vorgezeichnet hatte. 

Seine Qualen des Zweifels an der „heiligen Schrift“ der Genossen brachte Bernstein 1899 in seinem Buch mit dem Titel „Die Voraussetzung des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ zu Papier. Es fand in der auf Umsturz des Kaiserreichs ausgerichteten Partei nur zähen Widerhall und wurde unter dem Namen „Revisionismus“ als ketzerisch tituliert. Bernsteins Grundsatz, die SPD müsse sich endlich zu dem bekennen, was sie schon lange sei: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei, trieb den Genossen die Zornesfalten ins Gesicht. Denn, was er verlangte, war unerhört. Er forderte nichts weniger als einen Shakespeareschen „Macbeth“ ohne Königsmord: die bestehende Gesellschaftsstruktur zu reformieren, ohne sich des Monarchen zu entledigen. 

Ausdrücklich hielt er seinen Genossen in seiner gut 200 Seiten umfassenden Programmschrift das britische Beispiel einer florierenden Marktwirtschaft vor Augen und nahm von den Thesen der Säulenheiligen Marx und Engels entschieden Abstand. Er stellte die „Konzentrationstheorie“ in Frage, wonach die Großbetriebe im kapitalistischen System alle kleinen Betriebe aufsaugen und Kapital wie Eigentum sich in wenigen Händen konzentrieren würden. Die Wirklichkeit, so Bernstein, zeige, daß rationell arbeitende Mittel- und Kleinbetriebe sehr wohl gedeihen und findige, fleißige Arbeiter in den Mittelstand aufsteigen könnten. 

Er zog die „Katastrophentheorie“ in Zweifel, die den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems und seine Ablösung durch den Sozialismus voraussagte. Diese Hochrechnung habe sich als unhaltbar erwiesen. Denn der ungeheure Wirtschaftsaufschwung in England zeige, daß der Kapitalismus die Kraft zur Stabilisierung der Wirtschaft besitze und Wohlstand für breitere Gesellschaftsschichten verbürge. Schließlich griff er auch die These von der „Verelendung“ des Arbeiters an. Mit genauen statistischen Berechnungen wies er nach, daß die Arbeiter so-wohl in der wirtschaftlichen Stagnationsphase der 1870er und 1880er Jahre als auch in der Aufschwungphase der 1890er in den Genuß steigender Nominal- und Reallöhne gekommen waren. Aus all dem zog er den Schluß, daß die SPD von der Forderung nach sozialer und politischer Revolution Abschied nehmen müsse. Man müsse sich auf den Boden des Bestehenden stellen, den Weg konstruktiver Reformen einschlagen und das System sukzessive umbauen.

Dieser „Revisionismus“ Bernsteins wurde zwar auf dem Dresdner Parteitag von 1903 von der Mehrheit der Partei scharf verurteilt. Aber in der täglichen Parteiarbeit setzte er sich zunehmend durch. Dazu trug vor allem die nachrückende, in der Gewerkschaftsarbeit geschulte neue Führergeneration der SPD bei. Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske wirkten hier als Eisbrecher. Aber der allmählich platzgreifende Pragmatismus der SPD forderte seinen Preis: die scharfe Konfrontation mit dem linken Parteiflügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Parteilinke trat nach wie vor für einen General- oder Massenstreik ein, um über den ökonomischen Kampf und die Aufwiegelung der Straße das System lahmzulegen und die Macht zu erobern. Dieser Zwist sollte fatale Folgen für die Einheit der sozialistischen Bewegung haben. Im Ersten Weltkrieg trennten sich die Marxisten von der Parteimehrheit und gründeten zunächst die USPD und dann den Spartakusbund, die spätere KPD.

Arbeitern ein sozialistisches Schlaraffenland prognostiziert

Gleichwohl: Wie recht Bernstein mit seiner Mahnung an die Genossen hatte, läßt sich am Gang der Dinge deutlich ablesen. 1907 machte die SPD mit einem Flugblatt zu den Reichstagwahlen von sich reden. Es prophezeite den Arbeitern ein sozialistisches Schlaraffenland der Zukunft. „Ihr Arbeiter werdet einst“, so hieß es da in großen Lettern, „in eigenen Wagen fahren, auf Schiffen touristisch die Meere durchkreuzen, in Alpenregionen klettern und schönheitstrunken durch die Gelände des Südens, der Tropen, schweifen, auch nördliche Zonen bereisen. Oder ihr saust im Luftgespann über die Erde im Wettflug mit den Wolken, Winden und Stürmen dahin. Nichts wird euch mangeln, keine irdische Macht der Erde gibt es, die euer Auge nicht schaut. Was je nur euer Herz ersehnt, was euer Mund erwartungsvoll in stammelnde Worte gekleidet, da habt ihr das leibhaftige Evangelium des Menschheitsglücks auf Erden. Und fragt ihr, wer euch solches bringen wird? Nur einzig und allein der sozialdemokratische Zukunftsstaat.“

All diese Verheißungen liest man heute mit Lächeln und Erstaunen. Was damals noch so märchenhaft klang, ist längst Wirklichkeit geworden. Heute haben die Menschen in den Industrieländern einen Lebensstandard, der vor gut einem Jahrhundert noch wie ein Traum erschien. Diesen Traum aber haben, wie alle marxistischen Experimente von der DDR über die Sowjetunion, von Kuba bis hin zu Venezuela beweisen, nicht etwa Enteignungen, Planwirtschaft und Ideologien zuwege gebracht. Es war das freie Spiel der Kräfte in der Marktwirtschaft, das den Arbeitern die Erfüllung ihrer Forderungen brachte, nicht etwa die heute noch vernehmbaren Vorstellungen von Luxemburg und Liebknecht. Die gewerkschaftlich geschulten Pragmatiker Ebert und Scheidemann, die sich in der Revolution von 1918/19 gegen jedwede Vergesellschaftung als Ordnungsmodell der Wirtschaft stemmten, wußten dies. Bei ihren Epigonen scheint diese Erkenntnis mitunter in Vergessenheit zu geraten.




Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.