© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/24 / 20. September 2024

Konservatismus als Hege des Mythos
Gedenkblatt: Eine Erinnerung an den Schriftsteller und Kulturkritiker Gerhard Nebel zum 50. Todestag
Till Kinzel

Der Zeitgeist ist denen gegenüber, die sich ihm schon früher vehement widersetzten, nicht gnädig. Entweder es ereilt sie das Vergessen – oder sie dürfen mit Vorwürfen rechnen, weil sie sich nicht den Maßstäben der heutigen Hypermoral fügen. Der 1903 in Dessau geborene und 1974 in Stuttgart gestorbene Schriftsteller Gerhard Nebel gehört zu diesen Persönlichkeiten. Obwohl er, der unter anderem bei Heidegger und Jaspers studiert hatte, zahlreiche Bücher in einem höchst lebendigen Stil verfaßte, ist heute kein einziges seiner Werke außerhalb antiquarischer Quellen mehr lieferbar: weder seine Reiseberichte aus Afrika und Griechenland noch seine Werke über die griechische Philosophie und Dichtung oder die eindrucksvollen Kriegstagebücher „Bei den nördlichen Hesperiden“, „Auf ausonischer Erde“ und „Unter Partisanen und Kreuzfahrern“. 

Nebel war ein streitbarer Mensch – nicht nur in der Sache, sondern auch im persönlichen Umgang. So waren seine Freundschaften voller Spannung, oft genug zerbrachen sie – so im Falle Ernst Jüngers, den er während der Besatzungszeit in Paris kennenlernte, oder des Wolfenbütteler Bibliothekars Erhart Kästner. Auch Carl Schmitt und Armin Mohler gehörten zu seinen Freunden. 

Stets auf Distanz zu herrschenden Ideologien seiner Epoche

Nebel war ein Zeitdiagnostiker von hohen Graden. Aus dem Erlebnis des Zweiten Weltkriegs erwuchs ihm die Erkenntnis, daß sich der Nihilismus aller Gestalten des Lebens bemächtigt hatte. Priester, Bauern, Gelehrte, Dichter und eben auch Soldaten würden zu „Partisanen einer Weltanschauung“, mit fürchterlichen Folgen. Aber selbst die zerstörerische Macht konnte nicht alles vernichten, und so wollte Nebel die „Idee des ritterlichen Kriegers“ bewahren, „mußte aber gerade darum ihre partisanenhaften Entartungen in aller Schärfe nachzeichnen“. Darin wußte er sich mit Ernst Jünger einig, den er ebenso schätzte wie dessen Bruder Friedrich Georg und dem er nach dem Krieg eines seiner wichtigsten Bücher („Abenteuer des Geistes“, 1949) widmen sollte. 

Der Schriftsteller Michael Zeller, dessen Auswahlausgabe der Kriegstagebücher von 2011 bei einem Brand leider restlos vernichtet wurde, urteilte: „Nebel ist ein Selbst-Denker, der stets auf Distanz zu den herrschenden Ideologien seiner Epoche blieb, einerlei welcher Couleur.“ Das zeigt sich, Selbstmythologisierungen immer einberechnet, in den Kriegstagebüchern aus Italien, die Nebels Sympathie für die Attentäter des 20. Juli deutlich erkennen lassen. Schon zur NS-Zeit eckte Nebel mit seinem im Oktober 1941 in der Neuen Rundschau gedruckten Essay „Auf dem Fliegerhorst“ an. Hier schildert Nebel gleichnishaft die Insektifizierung des Menschen im Totalitarismus, in dem der Mensch sein altes Wesen ablegt.

Von Johann Georg Hamann, über den er sein letztes Buch schrieb, lernte er, daß starke Worte verwenden muß, wer mit der Wahrheit durchdringen will. Eben diese Verwendung starker Worte macht die Lektüre Nebels immer wieder zu einem Genuß. Urteilsstark ist seine Autobiographie „Alles Gefühl ist leiblich“. Sie bietet den vielleicht besten Einstieg in die Lektüre Nebels, der für Martin Mosebach „der letzte deutsche Schreckensmann als Hauslehrer“ war. 

Nebel polemisierte gegen „Seuche des Modernismus“ in den Kirchen

Obwohl Nebel selbst zahlreiche Reisen unternahm und ein wichtiger Teil seines Werkes aus Reisebeschreibungen – auch in vielen Merian-Heften – besteht, war er zugleich einer der schärfsten Tourismuskritiker, die man sich denken kann. Der abendländische Tourismus sei eine „der großen nihilistischen Bewegungen“ der Zeit, eine „der großen westlichen Seuchen“. Für Nebel hat dies eine philosophische Bedeutung, weil ein Land, das touristisch erschlossen wurde, sich metaphysisch verberge und keine dämonische Kraft mehr darstelle. Für den Konservativen aber gelte es, den Mythos zu hegen, stellte Nebel gegen die gängigen dürftigen Definitionen des Konservatismus fest. Denn nur so könnten ehrwürdige Institutionen gegen eine „wilde Fortschrittssucht“ gefestigt werden.

Der protestantische Theologie Helmut Thielicke bekämpfte einst den „ästhetischen Schmerz, den mir die theologische Fachliteratur verursacht“, durch die Lektüre Ernst Jüngers und Gerhard Nebels – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie radikal Nebel die Fehlentwicklungen in der Theologie kritisierte. Nach seiner eigenen Wende zum Christentum, die sich in den NS-Jahren anbahnte, empfand er eine äußerste Spannung zwischen dem „Ereignis des Schönen „(1953) und seiner musealen Aufbereitung zum Massenkonsum. Heiligsprechungen im Bereich des Schönen wie im Goethe-Kult verachtete Nebel; und auch den Humanismus lehnte Nebel ab, weil er mit einer Verkennung der Wirklichkeit einhergehe. Humanismus sei „Unfähigkeit zur Transzendenz, Auflösung des Objektiven, des Elements, des Dämons, des Gottes, des Seins in menschlichen Ausdruck“. Die Humanisten, schrieb Nebel an Erhart Kästner, vermieden die entscheidende Grundbestimmung des Seins, daß es nämlich Ärgernis gebe und Skandal errege. 

Es war kein Zufall, daß Nebel sein letztes Buch dem großen Königsberger Johann Georg Hamann widmete, für den Vernunft Sprache war und eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen die moderne Sophistik bestand. Nebel seinerseits polemisierte gegen die „Seuche des Modernismus“ in den Kirchen, die sich dem Konformismus der Massengesellschaft unterwarfen, statt einen Gegenpol dazu zu bilden. Allerdings glaubte er nicht, man könne der technologischen Zivilisation entkommen. Diese sei für massive Umweltzerstörungen verantwortlich und für das körperliche, geistige – und geistliche! – Leben tödlich. Nebels Verteidigung der Trunkenheit und der Heilsamkeit des Sports erhält von daher ihren tieferen Sinn.

Schon Anfang der 1970er Jahre hielt Nebel die Lage für hoffnungslos und sah den Untergang als unausweichlich an – geschehe dieser nun „kapitalistisch oder dirigistisch, demokratisch oder faschistisch“. Das Leben in der Moderne, so schrieb er in „Sprung von des Tigers Rücken“, gleiche einem Ritt auf dem Tiger, von dem man sehr wohl abspringen könne. Aber eben nur als Einzelner oder mit wenigen Freunden – das sei die „Freiheit der Verweigerung“, die zugleich eine Entschleunigung bedeute. 


Foto: Gerhard Nebel (1903–1974): Die „Freiheit der Verweigerung“ als Reaktion auf den Konformismus der Massengesellschaft