Zum 250. Geburtstag des Lieblingsmalers der Deutschen hat sich die ohnehin schon unübersehbare Literatur zu Leben und Werk Caspar David Friedrichs abermals um Dutzende von Büchern und Aufsätzen vermehrt. Das war zu erwarten, versteht sich aber trotzdem nicht von selbst. Denn die magische Anziehungskraft, die der lange vergessene Romantiker erst seit zwei Generationen auf ein großes Publikum ausübt – allein die diesjährigen Jubiläumsausstellungen in Hamburg und Berlin lockten über eine halbe Million Besucher an, und auch der Ende August im Dresdner Albertinum eröffneten Schau dürfte ähnlicher Zuspruch sicher sein –, ist offenbar unabhängig von der Zahl verfügbarer wissenschaftlicher „Sehhilfen“.
Die überwältigende Mehrheit der Kunstfreunde scheint sie nicht zu benötigen, sie strömt in die Museen, um sich dem unmittelbaren Erlebnis des Schönen hinzugeben. „Den versunken Genießenden kann der Gedanke nur stören“ (Nicolai Hartmann, „Ästhetik“, 1953). Obwohl eben diese „naive“ Unmittelbarkeit des Kunstgenusses spätestens seit Friedrichs Lebzeiten unerreichbar ist. Ein Umstand, dem Hegel in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ (1818) gewohnt apodiktisch Rechnung trägt: „Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern was Kunst sei, wissenschaftlich zu verstehen.“
Eine Palette kontrovers verhandelter Deutungsangebote
Für Hegel war ein solches betreutes Schauen alternativlos, denn die „intellektuelle Domestizierung und Verwissenschaftlichung des Kunsterlebnisses“ (Werner Hofmann, 1978) war seit der Renaissance in dem Maß vorangeschritten, wie das Kunstwerk im Zuge der Entchristlichung des europäischen Weltbildes seine fest verankerte sakrale wie profane Funktion im Dienst von Kirche und Staat verloren hatte. Und sich infolgedessen sukzessive im funktionsfreien Niemandsland ansiedelte, wo vielstimmige Urteilsunsicherheit herrschte, die keinen allgemein verbindlichen Konsens über das Schöne mehr zuließ. Kunst wurde daher „kommentarbedürftig“ (Arnold Gehlen, „Zeit-Bilder“, 1965) und deren Konsumenten kommentarbegierig.
Aus dieser Konstellation entwickelte sich dann ein bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vollausgereifter internationaler „Kunstbetrieb“, mit Museen, Salons, Ausstellungen, an allen Universitäten etablierten kunsthistorischen Lehrstühlen, mit Fachzeitschriften, fiebrigem Kunsthandel und üppig wuchernder feuilletonistischer Kunstkritik.
Zwar verwundert nicht, daß, wenn in der abstrakten Malerei die Unverständlichkeit des Bildes durch den Wegfall des Gegenstandes hohe Grade erreicht, die Nachfrage nach interpretierender „Begleitliteratur“ (Gehlen) explodiert. Hingegen überrascht, daß kein anderer moderner Künstler, der sich vor den Abstrakten jeder Couleur in die Annalen der Kunstgeschichte eintrug, eine vergleichbar vielfältige Palette kontrovers verhandelter Deu-
tungsangebote hervorrief wie der dem 18. Jahrhundert entstammende Caspar David Friedrich. Seit seiner deutsch-deutschen Wiederentdeckung, eingeleitet durch die Hamburger und Dresdner Ausstellungen zum 200. Geburtstag des Meisters 1975, entfaltete sich diese Auseinandersetzung um das „richtige“ Verständnis seiner Gemälde und Zeichnungen mit einer Intensität, die in der Friedrich-Forschung einen Konsens in grundlegenden Fragen bisher zwar verhindert, zugleich aber ihre Lebendigkeit verbürgt hat.
Davon zeugen auch drei der Publikationen zum Jubiläumsjahr 2024: Helmut Börsch-Supans „Gedankengänge“ des Malers rekonstruierende Monographie, Johannes Graves zu Recht unverändert wieder aufgelegter innovativer Versuch von 2012, dem Œuvre bildtheoretisch neue Perspektiven zu erschließen, sowie der ähnlich opulent illustrierte Band „Unendliche Landschaften“, der zur Berliner Friedrich-Ausstellung in der Alten Nationalgalerie erschienen ist, und in dessen Beiträgen der Kampflärm der Rezeptionsgeschichte hörbar nachhallt.
Helmut Börsch-Supan, geboren 1933, blickt im Nachwort mit Stolz auf seine „68jährige Beschäftigung mit einem unerschöpflich tief denkenden Maler“ zurück, die 1955 begann, als er an der FU Berlin seine Dissertation über „Die Bildgestaltung bei Caspar David Friedrich“ in Angriff nahm. 1973 veröffentlichte der spätere Stellvertretende Direktor der Berliner Schlösserverwaltung einen Gemäldekatalog, der das Referenzwerk für jede Friedrich-Forschung geblieben ist, dessen Wert und Relevanz nie in Frage stand. Von seinen heftig attackierten, gleichwohl immens einflußreichen Bildanalysen wird man das kaum sagen dürfen. Deren Zentrum, das der Nestor der Friedrich-Forschung in dieser keineswegs altersmilden Summa seines Lebenswerks nochmals befestigt, bildet die Überzeugung, daß alle Bildmotive vom „Kreuz im Gebirge/Tetschener Altar“ (1807/08) bis zur „Ruine Eldena im Riesengebirge“ (1830/34) als völlig eindeutige christliche Allegorien zu verstehen seien.
Der gebürtige Kölner Börsch-Supan, befangen in der Abendland-Ideologie der Adenauer-Ära, habe als Vertreter einer Interpretatio christiana, so lauteten scharfe Abfuhren seiner Kritiker bereits in den 1970ern, den Maler zum „didaktischen Pietisten“ geschrumpft. Was zur Folge hatte, daß einerseits der von Kunsthistorikern der DDR exponierte „Befreiungskrieg als Zentralerlebnis seines Lebens“ (Jost Hermand, 1995) und dessen Echo in seiner subtilen künstlerischen Agitation sowohl gegen die französischen Besatzer wie gegen die 1815 einsetzende preußisch-deutsche Restauration verdrängt wurde. Ralph Gleis, Direktor der Alten Nationalgalerie, resümiert jetzt denn auch so erleichtert wie geschichtsklitternd, der ab 1933 vermeintlich vereinnahmte Patriot Friedrich sei, dank der zuerst im angelsächsischen Raum erfolgten Entnazifizierung, den Bundesdeutschen als europäischer Künstler wiedergeschenkt worden.
Andererseits provozierte Börsch-Supans Fixierung auf Friedrichs angeblich stabile, „eindeutige“, im Christentum wurzelnde Bildaussagen den harten Gegenschlag jener avantgardistischen Fraktion, die seit den 1980ern Friedrich zum Vorläufer der abstrakten, bei Mark Rothko und Gerhard Richter endenden Moderne stilisiert und in sein Schaffen eine bis an den Rand der Beliebigkeit führende „Sinnoffenheit“ pluralistischer Verständnisoptionen hineinliest.
Für Johannes Grave, seit 2019 Professor für Neuere Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Europäische Romantik in Jena, treffen sich diese scheinbar so gegensätzlichen Lager im gemeinsamen Mittelpunkt: ihrer Vorannahme, die Bilder als Zeichensysteme in enge Analogie zur Sprache rückt. Bildbetrachtung laufe darum für beide Kontrahenten auf einen simplen „Akt der Entschlüsselung“ hinaus.
Diese Auffassung ist für Grave, der seine auch im Ausstellungskatalog knapp referierte Gegenposition kürzlich kunsttheoretisch untermauert hat („Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens“, 2022), schon deshalb problematisch, weil Bilder anders als Texte nicht über kleinste bedeutungstragende Einheiten verfügen. Fragwürdig ist sie zudem, weil Bildwahrnehmung nicht auf das Entschlüsseln visueller Zeichen einzuschränken sei. Denn weitaus stärker als Gedrucktes könne ein Gemälde die Aufmerksamkeit vom Dargestellten zu Darstellungsmitteln wie Komposition, Farbmaterial und Farbauftrag lenken, die erheblichen Anteil an der Sinngenese im Prozeß der Bildbetrachtung hätten. Friedrich, der solche Gestaltungsmittel virtuos handhabt, vergrößere damit die Distanz des Betrachters zum Bild, um dessen Bildbewußtsein zu wecken. Während ältere Landschaftsmaler alles taten, um die Illusion zu nähren, der Betrachter befände sich selbst in der „Naturscene“, regt Friedrich ihn stets dazu an, den Bildstatuts des Bildes zu reflektieren. Mit bildkünstlerischen Mitteln bewirkt er also, was Bertolt Brecht, auf den Grave sich seltsamer Weise nicht bezieht, „Verfremdungseffekt“ nennt. Ein Stilmittel des epischen Theaters, das vertraute Verhältnisse in neues Licht taucht, um sie als politisch veränderbar erscheinen zu lassen. Friedrich hingegen stellt seine visuellen V-Effekte nicht primär in den Dienst politischer, aber in den religiöser Erneuerung, die sich fern vom orthodoxen Kirchenchristentum vollziehen soll.
Wie Friedrich Bildbewußtsein fördert, demonstriert Grave anhand einer Musterinterpretation von „Die Frau am Fenster“ (1822). Das Gemälde zeigt die Rückenansicht der aus dem Dresdner Atelierfenster in die Elblandschaft blickenden Caroline Bommer, verheiratete Friedrich. Börsch-Supan reduziert diese strenge Komposition exklusiv auf ihre religiösen Motive: Der halbdunkle Innenraum steht für die Enge der irdischen Welt, die unterm Fenster-Kreuz sich zur überirdischen öffnet. Die als Todessymbole zu entziffernden Pappeln am anderen Ufer, die Masten der Frachtsegler und der Licht-Dunkel-Kontrast evozieren die Vorstellung einer Überfahrt vom Diesseits ins Jenseits.
Der Betrachter ist gezwungen, den eigenen Standort zu überprüfen
Für Graves Deutung ist hingegen die Bild-im-Bild-Perspektive des Betrachters hinter Caroline Friedrich entscheidend, die die Wahrnehmung fort von Börsch-Supans relativ anspruchsloser Motiv-entschlüsselung verschiebt in Richtung V-Effekt, der „Gemachtheit des Bildes“, die den Betrachter zwingt, den eigenen Standort kritisch zu überprüfen. Und die ihn vor vorschnellen, auf Decodierung versessenen Evidenzen gerade in komplexen Grundfragen des Glaubens bewahrt, wie sie Friedrich visualisiert. So zutreffend Börsch-Supans christlich engagierte Bildexegesen im Kern auch sein mögen, bleiben sie für Grave doch befangen im sprachlich Vermittelbaren und schöpfen den Gehalt des allein in Bildern religiös Sagbaren bei weitem nicht aus. Diesen Gehalt sieht Friedrich darin, dem Betrachter lediglich das „Geheimnis des Glaubens“ in seiner Rätselhaftigkeit „ahndend“ – wie es eine Lieblingsvokabel frühromantischer Ästhetik formuliert – erfahrbar zu machen, ohne es restlos zu lösen. Eine Auslegung, die keine geringere Autorität als die des Meisters hinter sich weiß: „Im Bilde“ werde „durch Farbe und Gestaltung ausgesprochen, was das Wort nicht wiederzugeben vermach“.
Bilder: Caspar David Friedrich, Frau am Fenster, Öl auf Leinwand, 1822: Religiöse Motive / Caspar David Friedrich, Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar), Öl auf Leinwand, 1808; Ruine Eldena im Riesengebirge, Öl auf Leinwand, 1830/35: Eindeutige christliche Allegorien
Helmut Börsch-Supan: Caspar David Friedrich. Seine Gedankengänge. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2023, gebunden, 283 Seiten, Abbildungen, 69 Euro
Johannes Grave: Caspar David Friedrich. Prestel Verlag, aktualisierte Neuausgabe, München 2023, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 34 Euro
Birgit Verwiebe/Ralph Gleis (Hrsg.): Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften. Ausstellungskatalog. Staatliche Museen zu Berlin/Prestel Verlag, Berlin/München 2024, 352 Seiten, Abbildungen, 49 Euro