© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/24 / 20. September 2024

Die Union mitten im Antifa-Kartell
Die heutige Synthese aus Hypermoral und Unterwürfigkeit bis hin zur nationalen Selbstaufgabe wurde vor mehr als sechzig Jahren angerührt
Thorsten Hinz

Wolfgang Bosbach ist das auf Seriosität gebürstete CDU-Gegenstück zum clownesken FDP-Mann Wolfgang Kubicki. Beide gefallen sich darin, ihr Parteiestablishment zu kritisieren, ziehen daraus aber keine praktischen Konsequenzen. Am Ende dient ihre Kritik nur dazu, das Kritisierte zu bestätigen. So erklärte Bosbach vor zwei Wochen in einem Interview mit der Welt, es sei an der Zeit, „die Migrationspolitik seit September 2015 grundlegend zu überdenken“. Die Debatte über die Länge von Messerklingen sei „Ausdruck politischer Hilflosigkeit. Und die Leute wissen das. Und ich habe die Befürchtung, daß die Politikblase in Berlin mittlerweile weit entfernt ist von dem, was ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich denkt.“ Potzblitz!

Doch kaum hatten die Wähler in Sachsen und Thüringen ein Machtwort gesprochen, sah Bosbach die Hauptaufgabe der „Demokraten“ darin, die AfD von der Regierung auszuschließen, denn Rechtsextremisten verdienten „keine Handbreit Platz im politischen Raum“. Die CDU dürfe „nicht mal kurz über die Brandmauer rüberwinken“, insistierte er bei Maybrit Illner im ZDF. „Wir machen mit der AfD keine gemeinsame Sache – Punkt, Ende der Durchsage.“ 

Genau: Punkt, Ende der Durchsage! Es lohnt nicht, noch länger und immer wieder an den Lippen von Claqueuren des Status quo zu hängen. Im übrigen bekäme es der AfD schlecht, wenn sie jetzt Regierungsverantwortung übernähme. Sie dürfte die Suppe, die die anderen Parteien dem Land eingebrockt haben, nicht einmal auslöffeln. Sie könnte nur darin herumrühren, weil sie keine Handlungsfreiheit besäße und alle gegen sich hätte: die Koalitionspartner, die Medien, die Justiz, die delirierende Zivilgesellschaft, den Geheimdienst. Es kann keinen Politikwechsel geben ohne ein Mindestmaß an öffentlicher Unterstützung. „Opposition ist Mist“, meinte vor vielen Jahren der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering, doch in dem Fall wäre das Regieren noch mistiger. Effektiver ist eine konsequente Opposition, die sich nicht in affirmativer Krittelei erschöpft, sondern die zahlreichen Übel und ihr Wurzelgeflecht beim Namen nennt und mit einem „Wir werden immer mehr!“ ein Drohpotential generiert.

Nur stellt die Frage nach einer Regierungsbeteiligung sich überhaupt nicht. Für die Union gelten Koalitionen mit der Linkspartei und dem Wagenknecht-Bündnis BSW als zwar unangenehme, doch bedenkenswerte Optionen. In Thüringen hat sie fünf Jahre lang einer stramm linken Minderheitsregierung die Stange gehalten.

Das ist vor dem historischen Hintergrund erklärungsbedürftig, denn spätestens seit der doppelten Staatsgründung 1949 standen die Union und die SED – der politisch-organisatorische Vorläufer der Linkspartei wie des BSW – sich spinnefeind gegenüber. CDU-Chef Konrad Adenauer war der Gründungskanzler der Bundesrepublik, die Union die Staatspartei. Gleiches galt seitenverkehrt für Walter Ulbricht und die SED in der DDR. Im innerdeutschen kalten Bürgerkrieg verstanden die Union und die SED sich als die Negation des jeweils anderen. Jetzt vollendet sich die Negation der Negation, die – mit vielen retardierenden Momenten – bereits mit der Wiedervereinigung eingesetzt hatte. Hand in Hand werkeln Union, Linkspartei und BSW an der Brandmauer zur AfD und damit zu einer Partei, die viele Positionen vertritt, die einst zum Kernbestand der Union gehörten.

Doch wo begann das Übel der Union? Viele zeigen auf Merkel, andere auf Helmut Kohl, den „Kanzler der Einheit“, der als Oppositionspolitiker eine „geistig-moralische Wende“ angekündigt hatte, sie aber nicht durchsetzte, nachdem er 1982 zum Kanzler gewählt worden war. In den 1990er Jahren machten dann die „jungen Wilden“ von sich reden: Nachwuchs-Funktionäre, deren Wildheit vor allem darin bestand, daß sie sich in einer Bonner Pizzeria mit Politikern der Grünen trafen, um künftige Machtperspektiven zu sondieren. Die Medien lobten sie als Modernisierer und Tabubrecher, weil sie keine Berührungsängste gegenüber den Protagonisten des linken Zeitgeistes zeigten; selber fühlten sie sich geschmeichelt und endlich anerkannt. Es handelte sich um ein altes Muster: Der dickliche, unsportliche Brillenträger, mit dem keiner was zu tun haben wollte, geht plötzlich als toller Hecht durch, weil er sich freigiebig zeigt und auf dem Schulhof sein Taschengeld verteilt. Einige dieser „Polit-Hiphops“ (Spiegel) bildeten später „Merkels Boygroup“. Davon übriggeblieben sind heute noch der Hyper-Transatlantiker Norbert Röttgen sowie der Christian-Wulf-Spruch „Der Islam gehört zu Deutschland“. 

Das sind freilich nur Symptome, nicht die Krankheit selbst. Die Ursachenforschung muß tiefer gehen, mindestens bis in die späten fünfziger Jahre, als der Antifaschismus den Antikommunismus und damit auch den Antitotalitarismus zu besiegen begann. Außerdem muß die Entwicklung in der Union in einem größeren, internationalen Kontext betrachtet werden. 

Gut zehn Jahre lang war die Union ungemein erfolgreich gewesen, die vielleicht erfolgreichste Partei in Europa. Die Bundesrepublik erlebte ein Wirtschaftswunder, konsolidierte sich politisch, wurde im Westen als Bündnispartner anerkannt und eroberte sich stückweise politische Handlungsfreiheit zurück. Unerledigt blieb die Frage der Wiedervereinigung. Hier setzte Adenauer unbeirrt auf die Magnettheorie. Sie besagte, daß die florierende Bundesrepublik auf die DDR-Bürger eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben würde – was zutraf – und daß die vereinte Kraft des westlichen Bündnisses die Sowjetunion zwingen würde, ihre Kriegsbeute herauszugeben.

Doch dann kam der Sputnik-Schock, ausgelöst vom künstlichen Satelliten Sputnik 1, den die Sowjetunion im Oktober 1957 auf eine Erdumlaufbahn geschickt hatte. Damit war klar, daß sie künftig in der Lage sein würde, jeden Punkt der Erde – auch jeden Punkt in den USA – mit nuklearen Interkontinentalraketen zu erreichen. Im Vollgefühl ihrer neuen militärischen Stärke ließ der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow im November 1958 das sogenannte Berlin-Ultimatum folgen. Er forderte den Abzug der Westalliierten aus West-Berlin, die Umwandlung der Halb- in eine Freie und entmilitarisierte Stadt sowie den Abschluß eines Friedensvertrags, der auf eine Drei-Staaten-Lösung für Deutschland hinauslief. Andernfalls würde Moskau einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abschließen und ihr die Zugangskontrolle über die Transitwege und Luftkorridore von und nach West-Berlin übergeben. Die Westalliierten lehnten die Preisgabe West-Berlins – denn darauf lief es hinaus – umgehend ab. Sie machten klar, daß sie ihre Rechte in der alten Reichshauptstadt gegebenenfalls auch militärisch verteidigen würden. Damit lag die Gefahr eines Krieges auf deutschem Boden in der Luft.

Zugleich setzten die Alliierten auf Entspannung und zeigten sich kompromißbereit, wobei die Deutschen den Preis zahlen sollten. Die deutsche Teilung würde bis auf weiteres bestehen bleiben, auch würden sie der Bundesrepublik keine eigene Atombewaffnung zubilligen, auf die Adenauer drängte. Jetzt wurde offensichtlich, daß die Interessen der Bundesrepublik und ihrer Partner keineswegs identisch waren. Zudem begann Adenauers Autorität zu bröckeln. Der Kanzler, immerhin 83 Jahre alt, hatte Anfang 1959 erkennen lassen, daß er sich aus dem politischen Tagesgeschäft auf das Amt des Bundespräsidenten zurückziehen wolle. 

Damit nicht genug, wurde Weihnachten 1959 die Kölner Synagoge mit antisemitischen Schmiereien geschändet, zahlreiche Nachahmungstaten folgten. Früh kam die Vermutung auf, daß die Stasi dahintersteckte, doch schlüssige Beweise fehlten. In der Sowjetunion, in der DDR, im gesamten Ostblock brach eine Kampagne gegen das angebliche Wiederaufleben des Faschismus in der Bundesrepublik los. Auch im Westen gab es heftige Reaktionen. Demonstranten protestierten vor dem deutschen Generalkonsulat in New York, und in London demonstrieren 15.000 Mitglieder des Verbandes jüdischer Veteranen. Es wurde gedroht, deutsche Waren zu boykottieren. Die israelische Regierung und internationale jüdische Organisationen verurteilten die Vorfälle. 

Die DDR heizte die Stimmung an, indem sie mit selektiv ausgewählten Akten bundesdeutsche Funktionsträger belastete. Vertriebenenminister Theodor Oberländer (CDU) wurde vom Obersten Gericht der DDR wegen angeblicher Verbrechen im Osten in einem propagandistischen Schauprozeß in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Zudem liefen in Israel die Vorbereitungen für den Eichmann-Prozeß, der Bonn ein Anschwellen der antideutschen Stimmung fürchten ließ.

Die Bundesrepublik sah ein blockübergreifendes, antifaschistisches Kondominium über sich verhängt, das einer Neuauflage der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs entsprach. Auf die unerwartete Verschiebung des politischen Koordinatensystems, schrieb Caspar von Schrenck-Notzing in dem Buch „Charakterwäsche“, antworteten die Deutschen „mit einem panischen Ausbruch ins Irrationale (…) Eine Frage war gestellt, die Antwort überstieg die Kräfte, es blieb der Kopfsprung aus dem offenen Fenster, genannt ‘Bewältigung der Vergangenheit’.“ 

Oberländer mußte zurücktreten, obwohl es keinen belastbaren Schuldnachweis gab. Damit war ein Präzedenzfall für eine informelle, antifaschistische Stimmungsjustiz geschaffen. Der linke Antifaschismus hatte über den Antikommunismus und Antitotalitarismus der Union gesiegt.  

Um die Stimmung zu drehen, beschloß der Bundestag, in dem die Union über die absolute Mehrheit verfügte, eilig ein Gesetz gegen Volksverhetzung. An den Schulen wurde die politische Bildung ausgeweitet. Prozesse gegen NS-Täter wurden forciert. In der Presse, in der Literatur, auf Theaterbühnen, im Kultur- und Geistesleben wurde die nationalsozialistische Vergangenheit breit erörtert. Die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“ nahm Fahrt auf. Es schlug die Stunde der „Frankfurter Schule“. Und Adenauers kühle Realpolitik galt zunehmend als unzeitgemäß, 

Bundespräsident Heinrich Lübke, der 1959 als CDU-Kandidat als Ersatzkandidat für Adenauer gewählt worden war, erklärte 1965: „Das Ansehen Deutschlands leidet Schaden, wenn wir unsere Bereitschaft zur Selbstreinigung nicht durch die Tat beweisen. Alle müssen wir dabei helfen (…) Wer heute die geschichtliche und politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Untaten abbrechen will, breitet lediglich eine Decke über den Schmutz, die es aber nicht verhindern wird, daß der Fäulnisprozeß unter ihr weitergeht und nach und nach die ganze Atmosphäre vergiftet.“ 

Wohlgemerkt: Diese Sätze stammen nicht von Steinmeier oder Scholz, sondern wurden 1965 von einem überparteilich agierenden, als bürgerlich-konservativ geltenden CDU-Mann geäußert. Man darf sie als ein Zeugnis der Unterwerfung lesen, das die antifaschistische Säuberung und die Moralisierung des Politischen propagiert und das Ausland einlud, Deutschland je nach Bedarf und Interessenlage mit dem Argument zu erpressen, zu wenig aus seiner NS-Geschichte gelernt zu haben. Es forderte die Deutschen auf, durch permanente Selbstreinigung die 1945 von den antifaschistischen Vor- und Siegermächten festgelegte Ordnung zu bestätigen. zu erneuern und das politische Abhängigkeitsverhältnis zu verinnerlichen.

Die heutige Synthese aus Hypermoral und Unterwürfigkeit bis hin zur nationalen Selbstaufgabe wurde also bereits vor mehr als sechzig Jahren angerührt. Die vom Antifaschismus angefressene Post-Adenauer-Union setzte ihr kein wirksames Alternativkonzept entgegen; sie variierte sie lediglich mit glühenden Bekenntnissen zu den „westlichen Werten“, zur Nato und zu einem romantisierten „Europa“. 

Deshalb war sie nach 1989 zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der SED und ihren Nachfolgern außerstande. Sie hätte unter dem Vorzeichen des Anti-Totalitarismus stattfinden müssen, denn an der Wiege der SED stand der Stalinismus. Da jedoch der Massenmörder Stalin gleichzeitig der effektivste Kämpfer gegen den deutschen Faschismus war und somit in der offiziellen Erzählung zu den Befreiern Deutschlands zählte, befand die weichgespülte Union sich in einem Dilemma. Zudem hatten seine entlassenen Erben keine Gulags, sondern lediglich Mauer, Stacheldraht und das Zuchthaus Bautzen zu verantworten. Nach einer kurzen Schamfrist wurden sie akzeptabel. Die Auseinandersetzung mit ihnen beschränkte sich auf billige Scharmützel über persönliche Stasi-Verstrickungen und eine infantile Rote-Socken-Kampagne im Bundestagswahlkampf 1994.

Es mag anachronistisch erscheinen, 35 Jahre nach dem Mauerfall diese Rechnung aufzumachen. Man kann weiterhin einwenden, daß die Komplexität der deutsch-deutschen Geschichte damit nicht abgedeckt wird. Doch wie anachronistisch ist erst das Nazi-Mantra an die Adresse der AfD! 

Ihre Ausgrenzung hat freilich dieselben Gründe, die die Inklusion der Linken in das bundesdeutsche Parteienkartell ermöglicht haben. Mit ihrem Insistieren auf nationale Eigeninteressen und Selbstbehauptung, auf Grenzkontrollen, auf Abkehr von der Hypermoral, auf nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnungen in Brüssel usw. stellt die AfD sich außerhalb des antifaschistischen Paradigmas und in der verqueren Logik das Kartells in die NS-Nachfolge. Die Wüsts, Günthers, Spahns, Söders und auch Wolfgang Bosbach haben diesen Irrwitz als politische Muttermilch eingesogen. Ehe die Union ihn nicht ausgeschieden hat, ist mit ihr kein Staat zu machen.