© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/24 / 20. September 2024

Aufgerieben zwischen Kiew und Moskau
Krimtataren: Ankara bringt das Schicksal des Brudervolkes auf die Tagesordnung
Marc Zoellner

Wie zur Anklage erhobene, vor Schmerzen gekrümmte Finger erheben sich die drei Stelen des Monuments aus dem Fundament nahe der U-Bahn-Haltestelle „Lybidska“ im Süden Kiews. Eingeweiht anläßlich des 4. Gipfels der Internationalen Krim-Plattform, der am 11. September in der ukrainischen Hauptstadt tagte, symbolisiert das vom krimtatarischen Architekten Irfan Shemsedinov entworfene Mahnmal die drei historischen Tragödien seines Volkes: die Annexion des Krim-Khanats, eines seit 1441 eigenständigen Herrschaftsbereichs der Krimtataren, im Jahr 1783 durch das Russische Kaiserreich; die Deportation von 200.000 Krimtataren durch die Sowjetunion ab März 1944 nach Zentralasien, der fast die Hälfte der Deportierten zum Opfer fielen; schließlich die erneute Annexion der Krim durch Rußland im März 2014. Unter den Gästen zur Einweihung des Mahnmals befanden sich neben dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auch sein litauischer Amtskollege, die Ministerpräsidenten von Lettland und Kroatien sowie als Ehrengast der krimtatarische Politiker Mustafa Dschemiljew.

Der 80jährige wurde 1943 noch selbst auf der Krim geboren, verbrachte sein anschließendes halbes Leben jedoch zwangsbedingt im sowjetischen Usbekistan, darunter als Aktivist 16 Jahre lang in verschiedenen Straf- und Arbeitslagern. Erst 1989 war es den Krimtataren erlaubt, in ihre Heimat zurückzukehren. Aufgrund der russischen Siedlungspolitik der Sowjetzeit stellen die Krimtataren seither nur noch rund zwölf Prozent der Bevölkerung der Halbinsel. Der „Medschlis“, die Zentralvertretung der Tataren, wurde von Rußland 2016 als „extremistische Organisation“ verboten. Dschemiljew, langjähriger Vorsitzender dieses Organs, floh schon im März 2014 erneut ins Exil nach Kiew – und gilt seitdem als strenger Verfechter eines erneuten Anschlusses der Krim an die Ukraine.

Für seine Forderung erhält Dschemiljew derzeit eifrige Schützenhilfe durch den türkischen Präsidenten Recep T. Erdoğan. „Unsere Unterstützung für die territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine ist unerschütterlich“, erklärte dieser in einer Videobotschaft zur Eröffnung des Krim-Gipfels. „Die Rückgabe der Krim an die Ukraine ist eine Forderung des Völkerrechts.“ Tatsächlich erkennen auch zehn Jahre später lediglich sieben Staaten die Annexion der Krim völkerrechtlich an: Nordkorea, Syrien, Kuba, Afghanistan, Venezuela und Sudan. 

Die Türkei, die sich als historische Schutzmacht der ethnisch verwandten Krimtataren betrachtet, nahm in dieser Frage noch nie ein Blatt vor den Mund. Sehr zum Unwillen des Kreml, dessen Sprecher Dmitri Peskow als Reaktion auf Erdoğans Botschaft von „offenem Druck“ der USA auf die Türkei bis hin zu „Einschüchterungsversuchen und wirtschaftlichen Konsequenzen“ spricht. „Doch wir geben unsere systematischen Versuche, unseren türkischen Freunden unseren Standpunkt näher zu erläutern, nicht auf“, so Peskow auf die russische Verfassung verweisend, die Verhandlungen über eine Rückgabe der Krim konsequent ausschließe.

„Nach 2014 habe ich immer wieder gesagt, daß die Krim durch Diplomatie befreit werden muß“, erläuterte Dschemiljew in einem Interview mit Radio Free Europe. „Andernfalls wird es zu einer unbewohnbaren Halbinsel, die an Mariupol erinnert. Doch Rußland weist alles zurück und besteht darauf, daß das Thema Krim nicht diskutiert werde.“ 

Für die Krimtataren sind dies ungünstigste Voraussetzungen für den Erhalt ihrer Kultur als indigene Bewohner der Halbinsel. Nicht wenige Tataren sprechen bereits von einem weiteren drohenden Genozid an ihrem Volk: So würden Zwangseinberufungen in die russische Armee vor allem junge Krimtataren anstelle junger Krimrussen betreffen. 

Die krimtatarische Sprache ist „stark gefährdet“ 

Ein Viertel aller Krimtataren – rund 50.000 Menschen – ist seit 2014 erneut ins Exil in die Ukraine geflohen, viele weitere wurden aus politischen Gründen inhaftiert. So auch Nariman Celal, der 44jährige stellvertretende Vorsitzende des Medschlis, der nach einer Rede auf dem 1. Gipfel der Internationalen Krim-Plattform im September 2021 von russischen Behörden verhaftet und zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Erst auf Vermittlung der Türkei kamen Celal sowie zwei griechisch-katholische Priester diesen Juni im Austausch gegen russische Kriegsgefangene frei.

Als „stark gefährdet“ kategorisiert die Unesco derzeit auch die krimtatarische Sprache: Nicht zuletzt aufgrund des Genozids der Sowjetunion an den Tataren seit 1944; auch die derzeitige Besetzung der Krim durch Rußland trägt ihren Anteil hieran. So hatten Sowjetbehörden im Jahre 1938 das latinisierte Krimtatarisch verboten, die kyrillische Schreibweise vorgeschrieben. Eine Regelung, welche Rußland 2014 für die Krim erneuterte. „Die lateinische Schrift ist zum Symbol einer pro-ukrainischen Haltung geworden“, resümiert die Journalistin Nika Krychovska in einem Beitrag für das Onlinemagazin UkraineWorld. Verschwiegen werden darf dabei allerdings nicht, daß auch die Ukraine erst 2021 auf Druck des Medschlis die latinisierte Form des Krimtatarischen anerkannte.

Daß wie beim jüngsten Krim-Gipfel der Fokus der Kiewer Regierung explizit auf die Krimtataren fällt, könnte durchaus weniger kulturerhaltende als vielmehr strategische Ziele verfolgt haben. Immerhin bedarf die Ukraine bei einer militärischen Rückeroberung der Krim auch die Unterstützung von Partisanen vor Ort. Die Krimtataren bieten sich für diese Zwecke an. Zur Einweihung des Mahnmals  versprach Selenskyj, daß es unter ihm auf der Krim „keine eingefrorene Besetzung“ oder „in Gefangenschaft zurückgelassene Menschen“ geben werde.