Der Homo oeconomicus umschreibt jemanden, der sein Handeln und Streben nach rationalen oder ökonomischen Prinzipien ausrichtet und seine Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt des größtmöglichen Nutzens und der Wirtschaftlichkeit trifft (ökonomisches Prinzip oder synonym Rationalprinzip).
Gott sei Dank gibt es den Homo oeconomicus in seiner Reinform nicht, es wäre eine schreckliche Vorstellung, wenn alle Entscheidungen ausschließlich nach sachrationalen Gesichtspunkten getroffen würden. Daß dem nicht so ist, darauf weisen uns der schottische Moralphilosoph Adam Smith (1723–1790), Nestor der Marktwirtschaft mit seinem Werk „Wohlstand der Nationen“ (1776), und Bernard Mandeville mit seiner Veröffentlichung „Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile“ (1714) hin.
Mandeville wurde allerdings nie so bekannt wie Adam Smith mit seiner Theorie der „unsichtbaren Hand des Marktes“. Mandeville war aber vor Smith derjenige, der die Handlung Einzelner auf das wirtschaftliche Wohl und Fragen nach deren Moral systematisch untersuchte und darauf hinwies, daß das Allgemeinwohl häufig auf Egoismus beruhe. Er faßte seine Erkenntnisse in Verse und rief damals einen handfesten Skandal hervor. Sein Buch wurde in Frankreich vom Scharfrichter verbrannt!
Smith wird häufig nur auf sein Buch „Der Wohlstand der Nationen“ und seine darin beschriebene „unsichtbare Hand“ reduziert, obwohl er nicht nur dieses eine Werk verfaßte. Seine wohl bekanntesten und meistzitierten Sätze daraus sind: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe. Der Nutzen der Reichen liegt darin, daß sie ihrer Selbstsucht und Raubgier folgen und dabei die allgemeine Wohlfahrt fördern, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es vielfach zu wissen!“ Die Nutzensteigerung für die Gesellschaft entsteht also durch die Bemühungen des Einzelnen zur Steigerung des eigenen Nutzens. Er wird hierbei von einer „unsichtbaren Hand“ gesteuert. Obwohl er meist nur das macht, was er glaubt, daß es ihm nützlich ist, fördert er dadurch auch Dinge, die er gar nicht beabsichtigt.
Es scheint schwer, zu glauben, daß eine Marktwirtschaft funktionieren kann, ohne Gesamtplanung, ohne eine zentrale Planung, und trotzdem die Versorgung der Bevölkerung in einem ausreichenden Maße sichergestellt ist. Das „Streben nach Eigennutz“ ist die Basis für das Funktionieren einer Marktwirtschaft. Denn jeder Mensch versucht zunächst seine eigenen Interessen durchzusetzen, das heißt, das Handeln des Menschen ist darauf ausgerichtet, Vorteile für sich selbst zu erzielen. Der eigene Nutzen steht bei allen Menschen im Vordergrund.
Die Marktwirtschaft geht demnach von einem relativ egoistischen Menschenbild aus oder anders ausgedrückt, die Marktwirtschaft braucht den egoistischen Menschen, um funktionieren zu können.
Warum sorgt ein eigennützig handelnder Unternehmer trotzdem für eine optimale Versorgung der Bevölkerung mit Gütern? Es liegt einfach daran, daß eine unternehmerische Tätigkeit die Chance bietet, Gewinne zu erzielen. Gewinnerzielung ist aber nur dann möglich, wenn der Unternehmer seine Produkte mit Preisen oberhalb der Produktionskosten verkaufen kann. Damit dies gelingt, muß der Unternehmer die Bedürfnisse seiner potentiellen Kunden kennen, denn er kann schließlich nur das verkaufen, was tatsächlich nachgefragt wird. Er muß also Marktforschung betreiben, um die Kundenwünsche zu kennen, denn produziert der Unternehmer am Bedarf vorbei, ist zu teuer und trifft mit seinen Produkten nicht den Geschmack seiner Kunden, dann wird er die Konsequenzen schnell merken (Umsatzrückgänge; Kunden sind nicht bereit, dafür zu bezahlen, ja bis zu Insolvenz). Der Unternehmer ist deshalb permanent gefordert, die Produktion seiner Unternehmung den Wünschen und Bedürfnissen seiner Kunden anzupassen.
Im Gegensatz dazu läßt der Staat in der Planwirtschaft diese Freiheit, nämlich das Streben nach Eigennutz, nicht zu. In der Planwirtschaft ist das Streben nach Eigennutz aber dennoch vorhanden, nur daß die Erscheinungsformen anders aussehen (Denunziation, Korruption, Produktion von Gütern, die nicht benötigt werden, um damit tauschen zu können, usw.). Das Geheimnis der marktwirtschaftlichen Ordnung ist, daß es in der Lage ist, den Eigennutz als Motivationskraft zum Nutzen aller einzusetzen.
Gegner der Marktwirtschaft bestreiten diese Zusammenhänge und setzen Marktwirtschaft mit Kapitalismus gleich („Raubtierkapitalismus“). Die Unersättlichkeit ist bei den Menschen aber bereits lange vor dem Kapitalismus vorhanden gewesen (Vertreibung aus dem Paradies). Sie ist eine Art Virus, gewissermaßen eingeimpft. Unbestritten ist, daß ein übergroßer Eigennutz und Egoismus, der alle moralischen und rechtlichen Grenzen überschreitet, das Funktionieren der Märkte bedroht.
Eine allgemein vorherrschende Meinung ist, daß Entscheidungen in Unternehmen und in der Politik rational zu treffen seien, das heißt begründbar, nachvollziehbar, methodisch, ohne „Gefühlsbeigaben“ und ohne Willkür. Die Entscheidungsforschung zeigt aber, daß Entscheidungen nicht ausschließlich unter rationalen Aspekten getroffen werden. Auf Egoismus aufgebautes Handeln ist nicht nur auf Unternehmen beschränkt, sondern prägt auch unsere Gesellschaft und unsere Politik.
Meist werden persönliche Vorlieben als „Rationalität“ verkauft, womit der eigentliche Hintergrund von Entscheidungen bewußt oder teilweise auch unbewußt verhüllt wird. Unter der Tarnkappe eines vorgeblich rationalen „vernünftigen“ Verhaltens wird verborgen, daß man sehr wohl seine eigenen Interessen verfolgt.
In Politik und Wirtschaft gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Die vielen aufgedeckten Skandale zeigen das. Sie sind mit Verhaltensweisen verbunden, die eindringlich zeigen: wenn es um den eigenen Vorteil geht, dann handelt nicht ein Homo oeconomicus für sein Unternehmen, sondern ein durch und durch eigennütziger Mensch, ein „Homo egoisticus“. Wie der „Haifisch das Hirn“ besiegt, schrieb das Handelsblatt, als im Jahr 2000 das britische Mobilfunkunternehmen Vodafone das deutsche Traditionsunternehmen Mannesmann für 180 Milliarden Euro schluckte. Die bis dahin größte Summe, die für eine Übernahme in Deutschland aufgewendet worden war. Sie bewirkte, daß ein Traditionsunternehmen mit langer deutscher Industriegeschichte und seinem markanten Mannesmann-Hochhaus am Rhein verschwand. „Winners Project“ hieß übrigens das Buchhaltungskonto, über das die Millionen-Prämien an die Vorstandsmitglieder von Mannesmann nach der verlorenen Abwehrschlacht flossen. Dieses „Gewinner-Projekt“ war für Mannesmann zweifelsohne kein Gewinnprojekt, sondern sein Untergang.
Der Vorstandsvorsitzende von Deutschlands bekanntestem Versandhaus Arcandor wurde wegen Untreue in 27 Fällen und Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, unter anderem für teure Privatflüge und Privatreisen. Er verfolgte konsequent seine persönlichen Vorteile bei gleichzeitig völligem Versagen in der Unternehmensführung, was zum Konkurs und Verlust der Arbeitsplätze der Mitarbeiter führte.
Bei der Daimler AG soll nicht auf zahllose falsche und sich widersprechende Strategieentscheidungen der Vergangenheit eingegangen werden, die Milliarden kosteten. Der damalige Vorstandsvorsitzende verlor seine persönlichen Vorteile nie aus dem Auge. Die Beschäftigung seiner Frau mit einem mehr als überdurchschnittlichen Gehalt für die von ihr ausgeübte Position und Ausbildung war, um es vorsichtig auszudrücken, „gewöhnungsbedürftig“.
Leider nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik häufen sich die Beispiele für eine Abkehr vom Homo oeconomicus zum ausschließlich egoistischen Verhalten des Homo egoisticus. Ein aktuelles Beispiel: die teilweise von der Politik eingesetzten obersten Führungskräfte der Deutschen Bahn glaubten tatsächlich, auch 2023 Anspruch auf sechs bis siebenstellige Erfolgsboni wie 2022 zu haben. Trotz eklatanten Versagens bei der Pünktlichkeit, Kundenzufriedenheit und so vielem anderen mehr, forderte man Bonizahlungen unter anderem mit der Begründung, daß die Frauenquote in den Führungspositionen um ein Prozent erhöht worden sei. Viele andere Fälle des Zuschiebens von Posten, Vergabe von Beratungsaufträgen an Freunde, Trauzeugen, Verwandte, Parteikollegen zeigen: vom Homo oeconomicus zum Homo egoisticus ist es kein weiter Weg. Ein weiteres Problem neben einem übersteigerten egoistischen Verhalten ist das Treffen völlig falscher Entscheidungen.
Eine Hauptursache dafür ist, daß viele „Entscheider“ sich nicht in die normale Arbeitswelt hineindenken können. Das gilt für jene Führungskräfte, die nach langem Schulbesuch, einem überlangen Studium (wenn möglich an einer Privathochschule), Promotion oder Tätigkeit bei den sogenannten „Big Consultings“ häufig direkt an die Spitze eines Unternehmens gelangen, ohne jemals persönlich echte Praxiserfahrungen gesammelt zu haben. Dies gilt aber auch für jene Politiker, die mit der Arbeitswelt nie in Berührung kamen, anders ausgedrückt, nie gearbeitet haben und vielfach keinerlei Ausbildung oder Abschluß besitzen.
Hinzu kommt, daß grundlegende, wichtige Probleme nicht mehr gelöst, sondern verschoben, allenfalls übertüncht werden. Sie potenzieren sich später in ihren Auswirkungen. Durch das Übertünchen der Schuldenpolitik werden riesige Probleme auf künftige Wahlperioden verschoben. Diese ungelösten Probleme werden aber wieder auftauchen und zu wesentlich größeren Erschütterungen führen, als wenn man rechtzeitig die Schuldenpolitik geändert hätte. Es ist eine Binsenwahrheit – dazu braucht man weder grundlegende volkswirtschaftliche noch betriebswirtschaftliche Kenntnisse –, daß Schulden irgendwann von irgend jemand bezahlt werden müssen. Das waren allerdings in der Vergangenheit immer diejenigen, die überhaupt nichts damit zu tun hatten!
Der Homo oeconomicus, der nach rationalen und ökonomischen Gesichtspunkten handelt, wird tatsächlich immer seltener. Es sei denn, daß konsequent eigennütziges Handeln dem Rationalprinzip gleichgesetzt wird, weil egoistisches Verhalten durchaus rational aus der Sicht des Homo egoisticus ist. Dieses eigennützige egoistische Verhalten könnte man durchaus als rational bezeichnen, denn zielorientiert werden nur die eigenen Interessen konsequent verfolgt!
Der Eigennutz des Menschen konnte bisher nie völlig unterdrückt werden. Die Historie hat dies gezeigt. Der Eigennutz ist Bestandteil des Verhaltens der Mitglieder jeder Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Aufgabe des Staates muß es aber sein, durch rechtzeitiges Eingreifen einen ungezügelten, gierigen und ungesetzlichen Eigennutz auszuschalten. Unser Wirtschaftssystem, die soziale Marktwirtschaft erfordert dies. Sie ist meiner festen Überzeugung nach allen sozialistischen Träumereien vorzuziehen. Mir fällt es zwar bis heute noch immer schwer zu verstehen, wie eine Wirtschaft ohne zentrale Planung oder Vorgaben funktionieren kann. Aber sie funktioniert allemal besser als jene Systeme, die nur einer zentralen Planung vertrauen. Ich glaube fest daran, daß meine persönlichen Konsumwünsche in unserem Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft besser erfüllt werden, als dies in plangelenkten Wirtschaftssystemen jemals der Fall sein würde.
Das zu beobachtende und nicht wegzudiskutierende offensichtliche Fehlverhalten und die Abkehr vom ökonomischen Rationalprinzip bei Politikern und Entscheidungsträgern der Wirtschaft darf aber nicht den Eindruck erwecken, daß alle Politiker und Führungskräfte so sind. Es gibt sie nach wie vor, den „vernünftigen“ Homo oeconomicus und „die positiven Veränderer, die Erfolgs- und Verantwortungssuchenden!“ Der Homo oeconomicus und der vernünftige eigennützige Mensch sind die Basis unseres Wirtschaftssystems, der sozialen Marktwirtschaft, nicht der Homo egoisticus. Damit das so bleibt, müssen wir alle, Gesellschaft, Politik, jeder einzelne von uns, etwas dazu beitragen.
Prof. em. Dr. Peter R. Preißler, Ökonom, lehrte Unternehmungsführung und Controlling und gründete 1987 die Deutsche Gesellschaft für angewandtes Controlling – einem Fachgebiet, zu dem er mehrere Standardwerke beisteuerte.